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Notwasserung vor Grönland: Überführungsflug von Cirrus SR20

Überführungsflüge mit Kolben-Einmots von Nordamerika nach Europa sind risikant. Die angemessene Ausrüstung ist dabei eine unverzichtbare Lebensversicherung

Von Redaktion

Mit nur einem Triebwerk tausende Kilometer über den eisigen Nordatlantik fliegen – zu Hause, im Ohrensessel vor dem Kamin sitzend, läuft einem bei dieser Vorstellung ein wohliger Schauer über den Rücken: Das klingt nach Abenteuer und Pioniergeist. Für Ferry-Piloten allerdings ist es keine Abenteuergeschichte, sondern Alltag. Das Risiko gehört zu ihrem Beruf, die Gefahr ist real. Anders als Privatpiloten müssen sie zu jeder Jahreszeit oft unter großem Zeitdruck Flugzeuge überführen. So geht es auch den Ferry-Piloten, die sich am Morgen des 2. Februar 2007 auf die Überführung von drei Cirrus SR20 vorbereiten. Sie wollen von Goose Bay in Neufundland, Kanada, Richtung Osten fliegen.

Ihr Tagesziel ist die isländische Hauptstadt Reykjavik. Die Maschinen sollen an einen Kunden in Thailand ausgeliefert werden. Die erste Etappe führt rund 1350 Nautische Meilen über den Nordatlantik, fast zehn Stunden nonstop stehen den drei Piloten bevor, meist über offenem Meer. Auf halber Strecke liegt der Ausweichplatz für Reykjavik: Narssarssuaq an der Südwestküste Grönlands, etwa 680 Nautische Meilen von Goose Bay entfernt. Die Wetterbedingungen sind an diesem Tag marginal: Über der Davis Straight müssen die Piloten eine okkludierte Front durchfliegen, teilweise ist bis in FL 100 mit mäßiger Vereisung zu rechnen.

Drei Cirrus SR20 starten zum Überführungsflug über den Nordatlantik

Weiter östlich, zwischen Grönland und Island, führt der Kurs durch eine weitere okkludierte Front; mäßige Vereisung ist hier von FL 80 bis FL 150 vorhergesagt. Bei zehn Grad unter Null starten die drei Tiefdecker um 14.05 Uhr UTC von Goose Bay und gehen auf Kurs. In FL 150 haben sie kurze Zeit später ihre Reiseflughöhe erreicht, hier liegen die Temperaturen bei bis zu 35 Grad unter Null. Nach etwa drei Stunden beschließen die Piloten, wegen des schlechten Wetters in Reykjavik schon in Narssarssuaq zu landen. Auch an der Südspitze Grönlands sind die Bedingungen mit Untergrenzen von 3500 Fuß und leichten Schneeschauern ungemütlich. Eine gute halbe Stunde bevor der Cirrus-Verband die Küste Grönlands erreicht, meldet eine der Maschinen, die N901SR, einen schwankenden Öldruck.

Cirrus SR20: Der moderne Kunstofftiefdecker wird regelmäßig von Nordamerika nach Europa überführt (Foto: Cirrus)

Zunächst gehen die Piloten, die sich per Funk austauschen, von einer fehlerhaften Anzeige aus, da die Öltemperatur im normalen Bereich bleibt. Auch der Continental IO-360-ES6 läuft einwandfrei. Dann gibt auch die Öltemperatur Anlass zur Sorge: Innerhalb kurzer Zeit steigt sie auf 220 Grad und fällt dann wieder auf normale 150 Grad. Daraufhin meldet der Pilot um 17.29 Uhr bei Sondrestrom Information, dass er möglicherweise eine Notlage wegen Triebwerksproblemen habe, die Öldruckanzeige sei im Moment aber wieder stabil. In Sondrestrom werden jetzt bereits Vorbereitungen für einen Rettungseinsatz getroffen. Um 17.40 Uhr gibt der Pilot dann aber Entwarnung: Es habe sich wohl tatsächlich um eine fehlerhafte Anzeige gehandelt. Nur wenige Minuten später, um 17.49 Uhr, verschlechtert sich die Situation dramatisch: Die N901SR meldet jetzt doch eine Notlage.

Atlantiküberquerung im Einmot

Die Piloten der anderen beiden SR20 geben von nun an ständig die Position ihres Kollegen an Sondrestrom Information durch. Das Triebwerk der N901SR dreht zu diesem Zeitpunkt anscheinend nur noch mit niedriger Leistung, sodass der Tiefdecker in den Sinkflug übergeht. Der Pilot meldet Öl auf der Frontscheibe; in 9000 Fuß taucht die Maschine in Wolken ein. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Um 17.50 Uhr, nur eine Minute nachdem bei Sondrestrom Information die Meldung der Notlage eingegangen ist, läuft im Rescue Coordination Centre offiziell der Rettungseinsatz an. Um 17.53 Uhr meldet die N901SR den vollständigen Ausfall des Antriebs, der Pilot bereitet sich auf eine Notwasserung vor. Er entscheidet sich dagegen, das Gesamtrettungssystem der SR20 auszulösen. In 800 Fuß stößt die Maschine aus den Wolken; der Pilot meldet, dass er die Küste Grönlands in Sicht habe.

Etwa um 18.10 Uhr steigt in Qaqortoq, nur wenige Kilometer entfernt, ein Rettungshubschrauber vom Typ AS350 auf. Fast zur gleichen Zeit, um 18.11 Uhr, geht die N901SR im eisigen Nordatlantik nieder. Eine letzte Positionsmeldung erreicht Sondrestrom um 18.14 Uhr: 60 Grad, 38 Minuten Nord, 46 Grad, 41 Minuten West, nur fünf Nautische Meilen vor der Küste Grönlands. Die Piloten der anderen beiden SR20 haben die Maschine jedoch nicht mehr in Sicht. Bis zu diesem Zeitpunkt stehen die Chancen des havarierten Piloten trotzdem vergleichsweise gut, noch mit dem Leben davonzukommen: Wie sich später zeigt, hat er die Maschine in aufrechter Lage aufs Wasser gebracht, die beiden Begleitflugzeuge haben bis zuletzt seine Position an Sondrestrom Information übermittelt, und auch ein Rettungshubschrauber ist bereits auf dem Weg zur Unfallstelle.

Vor der Küste Grönlands: Schwankender Öldruck, dann Motorausfall

Um 18.18 Uhr startet ein weiterer Helikopter von Narssarssuaq. Insgesamt vier Maschinen sind nun also in unmittelbarer Umgebung auf der Suche nach der Cirrus. Doch das Unglück nimmt eine fatale Wendung. Trotz der letzten Positionsmeldung können weder die Rettungskräfte noch die beiden anderen Cirrus-Piloten die verunglückte SR20 gleich nach der Notwasserung aus der Luft ausmachen. Vermutlich ist die Maschine im küstennahen Gewässer wegen zahlreicher Eisschollen nur schwer erkennbar. Der Pilot hat die Wasserung überlebt, kämpft jedoch schon bald mit starker Unterkühlung. Fast eine Stunde vergeht, bis einer der Cirrus-Kollegen um 19.08 Uhr das Flugzeug entdeckt. Es schwimmt zu dieser Zeit noch vollständig sichtbar auf dem Wasser. Drei Minuten später wird auch der Pilot gesichtet: Er treibt mit dem Kopf nach unten im Wasser.

Überführungsroute von Goose Bay, Kanada, nach Reykjavik auf Island. Hier der Ort der Notwasserung vor Grönland (Foto: Archiv)

Zu diesem Zeitpunkt ist er wahrscheinlich schon tot. Noch weitere 25 Minuten vergehen, bis einer der Rettungshubschrauber den leblosen Körper geborgen hat. Die SR20 sinkt etwa drei Nautische Meilen vor der Küste Grönlands auf den Meeresgrund in rund siebzig Meter Tiefe. Die dänische Flugunfall-Untersuchungsbehörde, in deren Hoheitsgewässern die Maschine gewassert war, versucht die Cirrus im Januar 2008 zu bergen. Die Bemühungen bleiben jedoch erfolglos. Die Untersuchungen beschränken sich im Folgenden auf die Umstände und Hintergründe des Unglücks. Unter anderem stellen die Experten fest, dass die havarierte Maschine nicht mit einem so genannten Winterization Kit, einer Verengung der Kühlluftöffnung, ausgestattet war. Für Flüge bei Temperaturen unter minus 23 Grad ist diese Maßnahme vom Hersteller vorgeschrieben.

Notwasserung: Der Pilot hat die Wasserung überlebt, kämpft jedoch schon bald mit starker Unterkühlung

Außerdem wird im Cirrus Service Bulletin 2X-71-10 bei „extremely cold weather operations“ dringend empfohlen, die Kurbelgehäuse-Entlüftung durch einen Isolationsschlauch vor der Kälte zu schützen und so deren Zufrieren vorzubeugen. Auch diese Sicherheitsanweisung, für einen winterlichen Flug über arktischen Gewässern zweifellos notwendig, wurde bei der Unfallmaschine nicht umgesetzt. Allerdings waren die anderen beiden Maschinen auch ohne diese Umrüstung sicher ans Ziel gekommen. Zwar kann eine blockierte Entlüftung zu massivem Ölverlust führen, doch ob die mangelhafte Ausrüstung tatsächlich Ursache des Triebwerksausfalls war, bleibt reine Spekulation. Anders verhält es sich mit der Ausrüstung des Piloten selbst. Ein Einschicht-Rettungsanzug, wie der 49-Jährige ihn bei der Atlantiküberquerung trug, ist zwar relativ bequem, bot aber im zwei Grad kalten Wasser vor der Küste Grönlands wenig Schutz vor Unterkühlung.

Mangelhafter Kälteschutz: Der Einschicht-Rettungsanzug des verunglückten Piloten war für eine Notwasserung im Nordatlantik nicht geeignet (Foto: Archiv)

Mit einem Isolationsanzug hätte er vermutlich mehrere Stunden, fast mit Sicherheit aber bis zum Eintreffen der Rettungsmannschaft überleben können. Ein solcher Rettungsanzug ist allerdings unbequemer und schränkt die Bewegungsfreiheit im Cockpit ein – bei einem mehrstündigen Flug nicht gerade eine angenehme Garderobe. Auch die Notsenderausrüstung an Bord der Cirrus entsprach nicht dem höchstmöglichen Sicherheitsstandard. Die Maschine war noch mit einem ELT ausgerüstet, das nur auf 121,5 MHz sendet. Ein 406-MHz-Notsender, im besten Fall ein Personal Locator Beacon mit intgriertem GPS, hätte die Rettungskräfte wahrscheinlich schneller und zielsicher zur Unfallstelle geführt.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 1/2010

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