Unfallakte

/

Kollision bei Sichtflugbedingungen: Zusammenstoß zweier Piper PA-28

Im deutschen Luftraum werden Piloten durch den FIS behütet wie an
kaum einem Ort der Welt. Trotzdem kann es selbst außerhalb des Platzrundenverkehrs manchmal eng werden. Unter Umständen zu eng

Von Redaktion

Der Fall ist so unwahrscheinlich wie gefürchtet: ein Überlandflug nach Sichtflugregeln bei wolkenlosem Himmel und wenig Verkehr, dann plötzlich ein donnernder Schlag auf die Kabinenhaube. Schockstarre beim Piloten, eine stark blutende Wunde am Kopf. Sekunden verinnen wie eine Ewigkeit. Schwindel, Bewusstlosigkeit. Das Flugzeug beginnt zu trudeln, gerät außer Kontrolle. Der Alptraum nimmt seinen Lauf.

Dieses Horrorszenario kommt wohl den Ereignissen sehr nahe, die sich an einem Septembertag im Jahr 2006 nördlich der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Bad Schwartau ereignen. Es ist ein warmer Tag im Frühherbst. Auf dem Verkehrsflughafen Lübeck-Blankensee steht um 13.59 Uhr eine Piper PA-28-181 Archer startklar auf der Piste. Der Pilot will mit drei Passagieren an Bord zu einem Rundflug nach Travemünde und zum Timmendorfer Strand starten.

In Lübeck-Blankensee startet eine Piper PA-28-181 Archer

Geplanter Kurs: West-Nordwest. Auch in Kiel-Holtenau wartet zu dieser Zeit ein Tiefdecker auf die Startfreigabe, ebenfalls eine PA-28-181. In der Maschine sitzt nur der Pilot. Um 13.59 Uhr schiebt er den Gashebel nach vorn, exakt zur gleichen Zeit wie der Pilot in Lübek-Blankensee. Augenblicke später ist er in der Luft, mit Kurs Südost. Sein Ziel: Brandenburg-Mühlenfeld westlich von Berlin. Die Parallelen beider Flüge werden in der Folge geradezu unheimlich: Vier Minuten nach dem Start, um 14.03 Uhr, meldet der aus Kiel kommende Pilot dem Tower, dass er die Kontrollzone in 2500 Fuß verlassen hat. Nur eine Minute danach geht in Lübeck ein Funkspruch des anderen Tiefdeckers ein: „Abflug über November in 2000 Fuß“. Die PA-28 ist über dem nördlichen Pflichtmeldepunkt von Lübeck aber noch im Steigflug.

Auf Kollisionskurs: Eine Inversionsschicht zwischen 1500 und 2500 Fuß MSL verschlechterte die Chancen der Piloten, sich rechtzeitig zu sehen. Die aus Kiel kommende Piper (rote Linie) flog außerdem in Richtung Sonne (Foto: Archiv)

Wenig später hat sie ebenfalls eine Reiseflughöhe von 2500 Fuß MSL erreicht und fliegt in nordöstliche Richtung. Um 14.08 Uhr ruft der Pilot der anderen Maschine Bremen Information und meldet auch dort seine Flughöhe, immer noch 2500 Fuß. Er erhält daraufhin den Transpondercode 4402. Beide Maschinen sind zu dieser Zeit bereits auf Kollisionskurs. Und die Piloten haben noch ein anderes Problem: Sie bewegen sich an der Obergrenze einer Inversionsschicht. Trotz wolkenlosem Himmel und zehn Kilometer Sicht am Boden sind die Sichten in 2500 Fuß deutlich eingeschränkt. Die dunstige Luft führt zu Lichtstreuungen. Andere Flugzeuge sind dadurch schlechter auszumachen. Besonders der auf Südost-Kurs fliegende Pilot hat mit schwierigen Verhältnissen zu kämpfen: Sein Blick ist zusätzlich gegen die Sonne gerichtet.

Bei Bad Schwartau krachen die beiden Kleinflugzeuge zusammen

Nordwestlich von Bad Schwartau dreht die Lübecker Piper auf einen Kurs von zehn Grad und verkürzt damit die verbleibende Strecke bis zum Kreuzungspunkt der beiden Flugzeuge. Um 14.21 Uhr kracht sie über dem Pariner Berg, nördlich von Bad Schwartau, zuerst mit dem Bugrad, dann mit dem rechten Hauptfahrwerk ins Cockpitdach des anderen Tiefdeckers. Dessen Pilot wird dabei so schwer am Kopf verletzt, dass er vermutlich sofort tot oder zumindest bewusstlos ist. In jedem Fall aber ist er nicht mehr in der Lage, das stark beschädigte Flugzeug zu steuern. Die Piper schlägt etwa 300 Meter westlich der Ortschaft Parin fast senkrecht auf einem Acker auf. Das Wrack ist extrem gestaucht. Die Leiche des Piloten muss von den Rettungskräften mit schwerem Gerät aus der Kabine geborgen werden.

Die Lübecker Piper wird durch die Kollision ebenfalls stark beschädigt. Auf der linken Rumpfseite klafft unterhalb des hinteren Seitenfensters ein zehn mal zehn Zentimeter großes Loch, die Gepäckraumrückwand ist durchschlagen, das rechte Hauptfahrwerk komplett aus der Tragfläche herausgerissen. Auch das Bugrad geht bei der Kollision verloren. Außerdem sind der linke Flügel und das rechte Querruder in Mitleidenschaft gezogen. Das Seitenruder lässt sich nicht mehr betätigen. Trotzdem schafft es der Pilot zurück nach Lübeck. Nach einem tiefen Überflug meldet ihm ein Lotse den Schaden am Fahrwerk. Er landet daraufhin um 14.37 Uhr mit Minimalfahrt auf der Graspiste des Platzes. Alle Insassen überleben. Ein Passagier hat sich bereits bei der Kollision leicht am Fuß verletzt.

Lübecker Piper: Nach einem tiefen Überflug meldet ihm ein Lotse den Schaden am Fahrwerk

Eine der Maschinen (hier zu sehen) schaffte es trotz schwerer Schäden zurück zum Flugplatz (Foto: BFU)

Die Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) rekonstruieren die Flugrouten der beiden Piper PA-28 bis zur Kollision anhand der Radar- und Funkdatenaufzeichnungen. Nach den Ausweichregeln, die in der Luftverkehrsordnung in den Paragrafen 12 und 13 festgelegt sind, muss bei kreuzendem Kurs zweier Motorflugzeuge in gleicher Höhe das von links kommende ausweichen. Weiter heißt es in Paragraf 13, Absatz 8 der LuftVO: „Ein Luffahrzeug, das (…) nicht auszuweichen oder seinen Kurs zu ändern hat, muss seinen Kurs und seine Geschwindigkeit beibehalten, bis eine Zusammenstoßgefahr ausgeschlossen ist.“ Das Fatale bei dem Unfall: Ausgerechnet der aus Kiel kommende Pilot hätte in dieser Konstellation ausweichen müssen, hatte aber durch den Sonnenstand und seinen Südost-Kurs die deutlich schlechtere Sicht. Ohnehin ist ein Flugzeug auf Kollisionskurs im Blickfeld des Piloten zu einem Zeitpunkt, da ein Ausweichmanöver noch erfolgreich wäre, nur sehr klein zu sehen.

„Auf einer Windschutzscheibe, die einen Meter vom Auge des Piloten entfernt ist, erscheint ein zwei Kilometer entferntes Flugzeug mit zehn Metern Spannweite in einer Größe von fünf Millimetern“, so die Experten. Demnach hatten beide Piloten theoretisch etwa 20 Sekunden vor der Kollision zum ersten Mal die Chance, das jeweils andere Flugzeug zu erkennen. Wegen der ungünstigen Sicht war für den Piloten aus Kiel die Reaktionszeit vermutlich noch kürzer. Ohne Frage hatte auch der andere Pilot mit den schwierigen Sichtverhältnissen zu kämpfen. Zudem kam er von rechts, musste seinen Kurs laut den Ausweichregeln also beibehalten. Trotzdem wäre er nicht in jedem Fall an die Vorschrift gebunden gewesen. In Paragraf 13, Absatz 9 der LuftVO heißt es dazu: „Die Vorschriften über die Ausweichregeln entbinden die beteiligten Luftfahrer nicht von ihrer Verpflichtung, so zu handeln, dass ein Zusammenstoß vermieden wird.“

Weit weg vom Pariner Berg, im Kontrollzentrum des Flight Information Service (FIS) in Bremen, hätte der verheerende Zusammenstoß vielleicht verhindert werden können. Zwei FIS-Spezialisten beobachten dort normalerweise den Luftraum in der Flight Information Region (FIR) Bremen. Vor allem gefährliche Annäherungen oder Kollisionswarnungen können sie anhand der Radardaten an die Piloten weitergeben, wenn zu diesen Funkkontakt besteht. Eine Verpflichtung zur Staffelung von VFR-Verkehr gibt es allerdings in den unkontrollierten Lufträumen nicht. Das Gebiet der FIR Bremen ist in die Sektoren Nord und Süd aufgeteilt, mindestens ein FIS-Spezialist ist nach den ICAO-Richtlinien für einen Sektor zuständig. Die Deutsche Flugsicherung (DFS) ist an die entsprechende Betriebsordnung gebunden, da die Bundesrepublik Deutschland der Umsetzung dieser ICAO-Richtlinie vertraglich zugestimmt hat.

Spurensuche am Pariner Berg: Bei einer der Unfallmaschinen werden durch den Zusammenstoß Budrad und rechtes Hauptfahrwerk abgerissen. Der Pilot rettet sich und seine Passagiere durch eine Bauchlandung auf der Graspiste in Lübeck-Blankensee (Foto: BFU)

Zum Zeitpunkt des Unfalls waren allerdings beide Bremer Sektoren einem FIS-Spezialisten unterstellt – aus Personalmangel oder schlicht aus Fehlplanung. Dieser Lotse hatte ein insgesamt hohes Verkehrsaufkommen zu bewältigen, außerdem musste er wegen der Größe des Gebiets (240 Nautische Meilen Ost-West-Ausdehnung) die Flugbewegungen am Bildschirm auf einem sehr viel größeren Maßstab als üblich beobachten. Die Folge: Das Erkennen kritischer Situationen war von vornherein stark eingeschränkt. Darüber hinaus musste er auch die Seefrequenzen für den Lotsenversetzdienst in der Deutschen Bucht betreuen. Die DFS begründete die personelle Unterbesetzung mit einer Betriebsratssitzung, die an diesem Tag stattfand.

Der Lotse hatte zum Unfallzeitpunkt ein insgesamt hohes Verkehrsaufkommen zu bewältigen

Zudem habe ein Mitarbeiter an einer Ausbildungsveranstaltung teilgenommen, ein weiterer Lotse sei erkrankt. Diese Erklärungen stellen nach Ansicht der BFU „keine unvorhersehbaren Ereignisse dar, bei denen die Wahrnehmung der Kernaufgaben der DFS vernachlässigt werden können“. Einem anderen tragischen Umstand in der Verkettung von Ursachen und Wirkungen kommt in diesem Zusammenhang besondere Bedeutung zu: Kurz vor der Kollision über dem Pariner Berg hatte sich zirka 280 Kilometer südwestlich, nahe der holländischen Grenze, eine in ihren Ausmaßen noch größere Katastrophe ereignet: Eine Transrapid-Magnetschwebebahn war an diesem Septembertag auf der Teststrecke im Emsland in einen Werkstattwagen gerast und hatte 23 Menschen in den Tod gerissen.

Der FIS Bremen richtete daraufhin ein Beschränkungsgebiet im Südsektor der zu überwachenden Region ein – verbunden mit einer weiteren, enormen Belastung für den Lotsen, der allein Dienst tat. Wären zwei FIS-Spezialisten an ihrem Platz gewesen, hätte das kurzfristig eingerichtete Beschränkungsgebiet im Südsektor kaum Einfluss auf die Arbeit des anderen Lotsen gehabt: Die Kollision der beiden Piper PA-28 hatte sich im Nordsektor der FIR Bremen ereignet.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 6/2009

Schlagwörter
  • Unfallakte
  • Lübeck-Blankensee
  • stark beschädigt
  • Kreuzungspunkt
  • dunstiges Licht
  • gegen die Sonne
  • in die Sonne
  • Lichtstreuungen
  • Inversionsschicht
  • ‎EDBE
  • Brandenburg-Mühlenfeld
  • Timmendorfer Strand
  • Parin
  • Bad Schwartau
  • wolkenlosem Himmel
  • Transrapid
  • Bauchlandung
  • Nordsektor
  • Teststrecke
  • Emsland
  • Seefrequenzen
  • Lotsenversetzdienst
  • hohes Verkehrsaufkommen
  • Fehlplanung
  • Personalmangel
  • Staffelung
  • unkontrollierter Luftraum
  • Flight Information Region
  • Pariner Berg
  • Flight Information Service
  • PA28
  • BFU
  • Piper PA-28 Archer II
  • Kollisionskurs
  • Bugrad
  • Unfall
  • Travemünde
  • Schleswig-Holstein
  • Überlandflug
  • Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung
  • FIS
  • Lotse
  • ‎EDHL
  • fliegermagazin
  • Tiefdecker
  • Europa
  • Deutschland
  • Piper PA-28
  • Piper
  • Rettungskräfte
  • Verkettung
  • Parallele
  • Ausweichmanöver
  • Obergrenze
  • Flugbewegungen
  • senkrecht
  • kracht
  • gestaucht
  • Zusammenstoß
  • Sichtflugbedingungen
  • Schlag
  • Inversion
  • ausweichen
  • ‎EDHK
  • Kiel-Holtenau
  • Kollision
  • Verkehrsflughafen
  • Passagiere
  • Motorflugzeuge
  • Kontrollverlust
  • Trudeln