Unfallakte

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Orientierungsverlust an der Ostsee: Absturz einer Socata TB-9

Der Pilot einer TB 9 will vom Flugplatz Heringsdorf an der Ostsee zu einem Nachtflug über der Odermündung starten. Die Bedingungen sind schwierig, er selbst ist unsicher – und startet dennoch

Von Redaktion

Nachtflüge sind eine große Herausforderung für Sichtflieger. Sie fordern perfekte Vorbereitung, Routine und ein besonderes Maß an Aufmerksamkeit. Auch die Sichtverhältnisse müssen stimmen: Nachtflieger brauchen eine klar erkennbare Referenz am Horizont, zum Beispiel Lichtpunkte von Ortschaften, einen klaren Sternenhimmel, um sich auch nach oben orientieren zu können, und am besten auch noch Mondlicht.

All das ist am 25. Oktober 2014 am Flughafen Heringsdorf auf der Ostseeinsel Usedom nicht zu finden. Der Himmel ist ab 800 Fuß zu fünf bis sieben Achtel bedeckt, sodass das Licht der Sterne nicht durchscheint. Zudem liegt die Startbahn unweit der Südküste Usedoms, dort beginnt schon am südlichen Rand der Platzrunde das Oder-Haff. Keine Straßenlaternen oder leuchtenden Städte lassen die Konturen der Landschaft erkennen. Bei bedecktem Himmel verschwimmt die graue Wasserfläche mit dem Grau der Wolken. Der Horizont verschwindet. Der letzte Airbus der Urlaubssaison, der gegen 18.30 Uhr vom Flughafen abhebt, verschwindet rasch in den Wolken. Trotz der widrigen Bedingungen macht der Pilot einer Socata TB 9 am späten Nachmittag seinen Tiefdecker startklar.

Trotz widriger Sichtbedingungen macht der Pilot die Socata TB-9 startklar

Er will zu einem Nachtflug nach VFR aufbrechen und nach maximal 30 Minuten wieder zurück sein. Rund eine halbe Stunde nach dem Start des Airbus rollt die TB 9 zum Rollhalt der Piste 10. Auf dem Weg meldet sich der Pilot beim Flugleiter und sagt, auf seinem Panel leuchte „eine rote Warnleuchte mit einem Hahn“. Der Flugleiter fragt daraufhin, ob der Öldruck in Ordnung sei. Der Pilot bejaht dies und rollt weiter zum Startpunkt.

Schreckliche Gewissheit: Am nächsten Morgen tauchen erste Wrackteile auf, die nächtliche Suche verlief noch ohne Ergebnis (Foto: BFU)

Um 18.57 Uhr beginnt die Maschine mit dem Startlauf und hebt kurz darauf ab. Der Flugleiter von Heringsdorf erhält ab diesem Zeitpunkt keine Positionsmeldung mehr von der TB 9. Nach 25 Minuten versucht er schließlich mehrmals, die Maschine über Funk zu erreichen. Doch es kommt keine Antwort. Daraufhin bittet er die Flugsicherung in Bremen um Radarhilfe. Aber die Lotsen in Bremen empfangen im Bereich Heringsdorf kein fliegendes Signal. Die Bodenstelle informiert daraufhin den Such- und Rettungsdienst. SAR-Helfer suchen die ganze Nacht über dem Oder-Haff und den angrenzenden Küsten nach der verschollenen TB 9.

Erst am folgenden Tag wird die Vermutung zur traurigen Gewissheit: Innerhalb der Südplatzrunde von Heringsdorf entdeckt man Wrackteile, wenig später auch die Leiche des Piloten. Das Hauptwrack mit Rumpf und rechter Tragfläche kann jedoch erst drei Tage später aus dem seichten Wasser gehoben werden, denn für Schiffe ist dieser Abschnitt zwischen Insel und Festland nur schwer zu erreichen. Offenbar ist die Maschine mit hoher Geschwindigkeit und Längsneigung ins Wasser gestürzt. Der Pilot war vermutlich sofort tot.

Im Cockpit des Tiefdeckers: Sicht- und Kontrollverlust

Die Ermittler der BFU (Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen) können den Flugverlauf nur bruchstückhaft rekonstruieren. Demnach flog die TB 9 nach dem Start in Verlängerung der Pistenachse an der Südküste der Insel entlang Richtung polnischer Grenze, dort drehte der Pilot nach Süden. 


Ein Zeuge beobachtete unweit des Abflugbereichs, dass die Maschine zu diesem Zeitpunkt in sehr niedriger Höhe mehrere Vollkreise drehte. Die Unfallstelle liegt aber deutlich weiter westlich im Haff und etwas südlich, etwa auf Höhe der Schwelle von Heringsdorf. Die Zeugenaussage und die Unfallstelle lassen vermuten, dass der Pilot bereits kurz nach dem Start die Orientierung verloren hatte und wenig später auch die Kontrolle über seine Maschine. Auch die hohe Aufschlaggeschwindigkeit und der steile Aufschlagwinkel sprechen für diese Vermutung. Durch die extreme Überlastung der Maschine vor dem Aufschlag war es sogar zu strukturellen Schäden gekommen: zur Ablösung der äußeren Tragflächensegmente noch während des Flugs.

Heftiger Aufprall: Die gefundenen Trümmer lassen auf einen harten Aufschlag schließen (Foto: BFU)

Probleme mit dem Triebwerk schließen die Ermittler zwar nicht aus, so sei zum Beispiel ein Problem beim Umschalten vom Flächentank auf den Rumpftank denkbar. Da aber keine Hinweise auf einen Defekt am Motor zu finden sind und auch die mitgeführte Spritmenge ausreichend gewesen sein dürfte, fällt der Fokus bei den Ermittlungen auf die schlechten Sichtverhältnisse, die einen Orientierungs- und Kontrollverlust als wahrscheinlichste Unfallursache darstellen. Die Bedingungen waren zum Unfallzeitpunkt in Heringsdorf für einen VFR-Nachtflug nicht geeignet.

Wahrscheinlichste Unfallursache: Orientierungs- und Kontrollverlust des Piloten

Zudem mangelte es dem Piloten offensichtlich in alarmierender Weise an Erfahrung für sein Vorhaben: Sein letzter Nachtflug lag zum Zeitpunkt des Unfalls bereits neun Jahre zurück. Insgesamt hatte er gerade einmal knapp 14 Nachtflugstunden seit Erwerb der Berechtigung gesammelt. Einige davon zu Tages- und Jahreszeiten, die „in Bezug auf Nachtflugbedingungen und Dunkelheit nicht plausibel“ sind, so die Bewertung der BFU-Ermittler.

Kein Heimvorteil: Der Pilot verliert vermutlich umittelbar nach dem Start die Orientierung (Foto: BFU)

Auch die etwas mysteriöse Frage des Piloten an den Flugleiter nach dem Aufleuchten eines roten Lämpchens auf seinem Instrumentenpanel lässt aufhorchen – oder wie es die BFU-Ermittler mit vornehmer Zurückhaltung ausdrücken: „Die Frage (…) bezüglich einer rot aufleuchtenden Warnleuchte lässt Defizite hinsichtlich seiner Systemkenntnisse erkennen.“ Denkbar schlechte Voraussetzungen für einen Start ins Dunkel.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 11/2017

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