Unfallakte

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Sicht- und Kontrollverlust im Winter: Socata MS 893-A Morane – Absturz nahe Freiburg

Schnee und Minusgrade – das muss nicht heißen, dass Fliegen nach VFR unmöglich ist. Was soll schon schief gehen, wenn man sich einem erfahrenen Piloten anvertraut?

Von Martin Naß

Der Winter, so scheint es, teilt Piloten in zwei Lager. Die einen hängen einfach Ende Oktober die Fliegerjacke an den Nagel und warten auf die ersten Frühlingstage sowie darauf, dass das Thermometer wieder Plustemperaturen anzeigt. Die anderen ziehen sich warm an und lassen sich von trüben Tagen nicht abschrecken. So macht sich Mitte Dezember ein Berufspilot mit einer Socata MS 893-A Morane auf den Weg von Freiburg nach Grenchen in der Schweiz. An Bord ein Passagier, der auf dem Flugplatz Grenchen abgesetzt werden möchte. Die beiden kennen sich: Früher war der Reisende einmal Flugschüler bei seinem Piloten, der unter anderem auch die Berechtigung besitzt, Fluglehrer, Privat- und Berufspiloten zu schulen.

Mit über 4800 Stunden im Flugbuch gilt er als sehr erfahren; 360 Stunden und 339 Landungen hat er auf der Morane absolviert. Von Grenchen aus will der 37-Jährige sofort wieder zurück nach Freiburg, denn er hat heute noch etwas vor: Bannerschlepp steht auf dem weiteren Tagesprogramm. Für den Trip hat er, wie bei einem Flug ins Ausland vorgeschrieben, einen Flugplan aufgegeben. Das Wetter an diesem Tag ist der Jahreszeit entsprechend winterlich; aus Norden strömt feuchtlabile Meeresluft in die Region. Sichtflug ist möglich, doch am Westrand des Schwarzwaldes stauen sich die Wolken mit tiefen Untergrenzen. Für das GAFOR-Gebiet 61, in dem der Schwarzwald liegt, gibt der Deutsche Wetterdienst eine Schneewarnung heraus.

Flugplan vorgeschrieben: Flug der Morane führt ins Ausland

Schlechte Sicht wäre für den Piloten der Morane noch nicht einmal das Problem, denn er hat eine Lizenz für einmotorige Landflugzeuge bis 2000 Kilogramm nach VFR und auch nach IFR. Allerdings ist der Tiefdecker nicht für Instrumentenflug zugelassen. Ein Künstlicher Horizont und eine VOR-Navigationsanlage sind aber vorhanden – im Notfall womöglich lebensrettend. Viel entscheidender jedoch ist, dass die Morane kein System zur Enteisung hat. Doch mit Vereisung wäre an diesem Tag zu rechnen, wenn es höher hinauf in die Wolken gehen soll. Morgens um 8.30 Uhr Ortszeit geben die beiden den Flugplan auf und starten.

Die Route soll von Freiburg aus direkt in Richtung 190 Grad zum Hochwald VOR führen, dann weiter mit Kurs 210 Grad nach Grenchen. Das Problem dabei: Die erforderliche Sicht ist nicht gegeben, um auf dieser Strecke nach VFR zu navigieren. Doch genau das versucht der Pilot. Weshalb er das tut, lässt sich später nicht mehr nachvollziehen. So geht es in niedriger Höhe am Westrand des Schwarzwaldes entlang, und damit genau dort, wo sich die Wolken türmen und dabei immer tiefer reichen. Ein minimaler Umweg hätte die Verhältnisse deutlich verbessert: Nur zehn Nautische Meilen weiter im Westen bei Mülhausen wären die Bedingungen für Sichtflug erfüllt, auch ist das Gelände dort flacher.

Etwas mehr Aufwand im Sprechfunkverkehr hätte diese Strecke erfordert, um die kontrollierten Lufträume rund um das elsässische Colmar und bei Basel-Mülhausen durchqueren zu können. Doch für jemanden mit dem Ausbildungsstand dieses Piloten sollte das kein Problem sein. Vielleicht weiß er aber auch gar nichts von dem weitaus besseren Wetter im Westen, denn weder unter seinem Namen noch für das Kennzeichen der Morane gibt es eine individuelle Flugwetterberatung an diesem Tag. Der Pilot hält fest an seinem Vorhaben und hangelt sich an einem Höhenrücken entlang in Richtung Süden. Ungefähr eine halbe Stunde lang geht das gut. Kandern ist eine kleine Ortschaft, etwa 25 Kilometer südwestlich von Freiburg. An ihrer höchsten Stelle liegt sie bei 711 Metern. Als die Morane den Ort erreicht, liegt die Wolkenuntergrenze dort bei 2500 Fuß MSL (750 Meter). Die Wolken reichen bis FL110, und der Höhenrücken, an dem entlang der Pilot zu navigieren versucht, ragt bereits in die Wolken hinein.

Unterhalb der Bewölkung ist es diesig, vereinzelt schneit es, die Sicht am Boden beträgt zirka 1000 Meter – deutlich unter dem VFR-Minimum. Bei minus drei Grad Kälte kommt der Wind mit bis zu 30 Knoten aus nordwestlicher Richtung. Um 9.00 Uhr hört ein Zeuge in Kandern über sich in den Wolken ein zunächst gleichmäßig klingendes Motorgeräusch. Kurz darauf sieht er ein Flugzeug, das mit großer Längsneigung aus den Wolken kommt und mit laufendem Triebwerk hinter dem Höhenrücken verschwindet. Dann folgt das Geräusch eines Aufschlags. Der Zeuge verständigt die Polizei. Die Morane stürzt nahezu senkrecht in den Wald und schlägt in Rückenlage auf; die beiden Insassen haben keine Chance, den harten Aufprall zu überleben. Gegen 10.25 Uhr findet ein SAR-Hubschrauber das Flugzeugwrack in dem 530 Meter hoch gelegenem Waldgebiet.

Die Morane stürzt nahezu senkrecht in den Wald und schlägt in Rückenlage auf

Die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BfU) kann bei ihren Ermittlungen keinerlei Defekte an der zwar fast 40 Jahre alten, aber gut gewarteten Maschine feststellen. Der Motor lief bis zuletzt mit hoher Leistung; neben der Aussage des Zeugen bestätigt dies ein nahe bei dem Wrack liegender Baumstamm mit 35 Zentimeter Durchmesser, den der drehende Propeller zu zwei Dritteln durchschlagen hat. Am VOR-Empfänger ist noch die Frequenz von Hochwald gerastet, das Funkgerät auf 121,25 Megahertz eingestellt. Vielleicht wollte der Pilot noch im letzten Moment auf die Notfrequenz kommen, um seine Schwierigkeiten zu melden. Was letzten Endes genau passiert ist, lässt sich nicht mehr exakt rekonstruieren, aber doch erahnen: Beim Einflug in die Bewölkung über Kandern kam es entweder zum Orientierungsverlust des Piloten oder zur Vereisung an Tragflächen und Leitwerk des Flugzeugs. Die Folge war der Kontrollverlust.

Angesichts der hohen Qualifikation des Flugzeugführers ist sein Verhalten im Bezug auf Flugplanung und -durchführung kaum nachvollziehbar. Den Transponder, der für den Einflug in die kontrollierten Lufträume von Colmar oder Basel-Mülhausen nötig gewesen wäre, ließ er ausgeschaltet. Er suchte auch keinen Funkkontakt mit der Flugsicherung, um etwa noch unterwegs Wetterinfos einzuholen. Vielleicht hätte er dann noch rechtzeitig erfahren, dass die Welt an diesem Dezembertag nur wenige Meilen weiter westlich deutlich freundlicher aussah.

fliegermagazin 3/2009

Über den Autor
Martin Naß

Martin Naß war bis Ende 2021 Redakteur des fliegermagazins und dort auf UL-Themen spezialisiert.

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