Unfallakte

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Strömungsabriss in Bodennähe: VL-3 beim Erprobungsflug

Neue Flugzeugmuster werden in sicherer Höhe und innerhalb der berechneten Betriebsgrenzen getestet. So zumindest sollte es sein. In der Praxis aber werden diese Sicherheitsstandards nicht immer eingehalten

Von Redaktion

Flieg nicht so hoch und nicht so schnell!“ – unter Piloten ist dieser gut gemeinte, aber unsinnige Rat von Nicht-Fliegern ein alter Scherz. Ausreichend Höhe und Fahrt gehören zum sicheren Betrieb eines Flugzeugs wie ein Lenkrad ins Auto. Und doch kommt es immer wieder vor, dass Piloten in geringer Flughöhe die Mindestfahrt unterschreiten. Sogar bei Erprobungsflügen.

UL-Flugplatz Erkelenz Kückhoven am 13. April 2008. Ein moderner Kunststofftiefdecker vom Typ VL-3D1 Sprint steht abflugbereit am Rollhalt „34“. Das Ultraleichtflugzeug ist zu diesem Zeitpunkt noch in der Flugerprobung und hat in Deutschland erst die Vorläufige Verkehrszulassung (VVZ). Inzwischen hat der neue Musterbetreuer Kondor-Aviatik die endgültige Verkehrszulassung erhalten (siehe fliegermagazin 8/2010). An diesem Frühlingstag im Jahr 2008 sitzen im Cockpit der VL-3 zwei Erprobungspiloten, beide sind neben vier weiteren Flugzeugführern berechtigt, das UL im Rahmen der Musterzulassung zu fliegen.

Geringe Höhe, wenig Fahrt


Um 13.54 Uhr rollt die Maschine auf die Bahn und startet. Nach dem Take-off dreht sie auf Nordkurs, um nach etwa 15 Minuten bei der Ortschaft Moers nahe Mönchengladbach wieder nach Süden zu kurven. Der neue Kurs führt Richtung Aachen-Merzbrück, von wo die Piloten am Morgen gestartet waren. Wenige Minuten später, um 14.25 Uhr, geht die Sprint plötzlich in einen steilen Sinkflug.

Radaraufzeichnungen belegen, dass das UL innerhalb von 40 Sekunden 800 Fuß Höhe verliert und auf 900 Fuß GND sinkt, dabei dreht der Pilot nach Osten. Weshalb der 51-Jährige derart drastisch Höhe abbaut, ist unklar. Möglicherweise wollen sich die Insassen die Gegend im Tiefflug ansehen, auf der Route überfliegen sie einige auffallende Landschaftsmarken. Dann steigt der Tiefdecker wieder auf 2000 Fuß und geht auf Südkurs.

Das gleiche Flugzeug mit tschechischer Zulassung (Foto: BFU)

Nur fünf Minuten später sinkt die Maschine erneut, diesmal auf etwa 150 Meter. Das UL verliert jetzt zudem deutlich an Fahrt. Der Pilot reduziert die Geschwindigkeit von 185 auf rund 90 km/h über Grund. Dann unterschreitet der Tiefdecker die Mindestfahrt und kippt über die linke Fläche ab. In einer trudelartigen Bewegung stürzt das UL dem Boden entgegen. Die letzte Radarspur wird um 14.31 Uhr aufgezeichnet.

Einer der Insassen aktiviert kurz vor dem Aufschlag, in einer Höhe von etwa 65 bis 70 Metern, noch das Rettungssystem. Jedoch vergeblich. Beide Piloten sterben noch im Wrack, das wenige hundert Meter südlich der Landstraße L 238 auf einem Feld zum Liegen kommt. Die rätselhaften Tiefflugmanöver in Verbindung mit der stark reduzierten Geschwindigkeit kurz vor dem Trudelsturz legen die Vermutung nahe, dass der Pilot Sicherheitshöhe und ausreichend Fahrt offenbar für vernachlässigbare Parameter hielt.

Das Rettungssystem wird ausgelöst

Die Experten der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchungen (BfU) rekonstruierten bei ihren Ermittlungen die letzten Sekunden vor dem Absturz. Demnach hatte der Pilot den Tiefdecker dicht über dem Boden nahe an die Mindestfahrt gebracht. Als sich der Strömungsabriss ankündigte, schob er den Gashebel übergangslos bis zum Anschlag nach vorn. Durch die abrupt mit Höchstdrehzahl rotierende Luftschraube nahm der Korkenziehereffekt an der VL-3 maximal zu, außerdem machte sich zur gleichen Zeit das Propeller-Rückdrehmoment (Torque) deutlich bemerkbar. Das führte zu einer Rollbewegung um die Längsachse nach links, die der Pilot offenbar nicht durch Gegenseitenruder kompensierte. Die Folge: Trudeln und Kontrollverlust.

Weshalb sich der Rettungsschirm kaum entfaltete, ist trotz der geringen Flughöhe zunächst rätselhaft. Die Mindestausschusshöhe des Systems der Firma Galaxy liegt bei 130 bis 150 Metern über Grund. Das Ausschussverhalten während einer Trudelbewegung wird jedoch nicht getestet. Außerdem führte der Hersteller die gesetzlich vorgeschriebenen Testausschüsse nicht wie gefordert bei 45 km/h, sondern bei einer Anströmgeschwindigkeit von 120 km/h durch. Die VL-3 flog zum Zeitpunkt des Unfalls aber nahe am Strömungsabriss.

Testausschüsse bei 120 km/h


Nach Angaben von Galaxy ist bei einer Auslösegeschwindigkeit unter 120 km/h in jedem Fall mit einer längeren Entfaltungszeit des Schirms zu rechnen und folglich eine größere Ausschusshöhe nötig. Die BFU-Ermittler gehen davon aus, dass unter den Unfallbedingungen „die Auslösehöhe das Doppelte oder sogar mehr als die geforderten Zulassungskriterien“ beträgt, das heißt 260 bis 300 Meter. Die VL-3 flog nach der BfU-Rekonstruktion kaum 70 Meter hoch, als die Rakete gezündet wurde.

Ohne Wirkung: Das Gesamtrettungssystem der VL-3 wurde zwar aktiviert, der Schirm konnte sich aber nicht mehr vollständig entfalten. Der harte Aufschlag war nicht überlebbar (Foto: BFU)

Überrascht stellten die Unfallermittler außerdem fest, dass beide Insassen angesichts ihrer Tätigkeit als Erprobungspiloten nur eine sehr geringe Flugerfahrung aufwiesen: Im Flugbuch des PIC waren insgesamt 111 Stunden eingetragen, auf der VL-3 hatte er eine Stunde und 18 Minuten. Sein Erprobungsbegleiter auf dem rechten Sitz war lediglich 26 Minuten mit dem Tiefdecker geflogen. Im BFU-Abschlussbericht wird dazu nüchtern festgestellt: „Als fachliche Voraussetzung für Erprobungspiloten verlangt das Luftsportgerätebüro des DAeC ›eine gültige Lizenz, die nicht erst kürzlich erworben wurde, sowie keine negativen Meldungen über den Piloten.‹“ Von Erfahrung ist dort keine Rede.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 9/2010

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