Unfallakte

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Wechsel von IFR zu VFR: Orientierungsverlust in Cirrus SR22

Der Übergang vom Instrumentenflug zur Landung nach VFR birgt bei schlechtem Wetter große Risiken

Von Redaktion

Flugregelwechsel von IFR zu VFR und umgekehrt sind eigentlich sehr praktisch, weil sie auch bei schlechtem Wetter Flüge von und zu kleinen Plätzen ermöglichen, die kein Instrumentenanflugverfahren haben. Dennoch ist der Übergang zum Sichtflug vor der Landung bei grenzwertigem Wetter nicht ungefährlich – denn die Versuchung ist groß, die gesetzlichen Mininima für Sicht und Wolkenabstände zu unterschreiten.

Die Cirrus SR22, die am 31. Mai 2010 im polnischen Katowice zu einem Charterflug nach Bielefeld (EDLI) startet, ist bestens ausgerüstet. Sie hat mit dem Avidyne Entegra ein integriertes Avioniksystem im Cockpit, das auf einem Primary Flight Display (PFD) alle wichtigen Flugdaten anzeigt; ein Multifunktions-Display (MFD) stellt außerdem Triebwerksparameter sowie Navigations- und Anflugkarten dar. Um 7.52 Uhr Ortszeit hebt die SR22 in Katowice ab und nimmt Kurs Richtung West-Nordwest. Außer der 26 Jahre alten Berufspilotin sind drei Passagiere an Bord des Viersitzers.

Die Cirrus SR22 startet in Katowice zu einem Charterflug nach Bielefeld

Der Flug soll bis kurz vor dem Ziel nach Instrumentenflugregeln durchgeführt werden; am Wegpunkt DENOL ist der Übergang zu VFR geplant, denn Bielefeld kann nur VFR angeflogen werden. Um 10.26 Uhr beantragt die Pilotin in einer Höhe von 4200 Fuß MSL den Wechsel von IFR nach VFR. Es sind jetzt nur noch sechs Nautische Meilen bis zur Schwelle der 1256 Meter langen Piste von Bielefeld. Vier Minuten später dreht der Tiefdecker nach Süden und nimmt Kurs auf die Piste 29. Der Platz ist jetzt nur noch zwei Nautische Meilen entfernt, die SR22 wird vom Autopilot im Heading-Modus sowie bei konstanter Vertical Speed gesteuert.

Fatale Kurven: Die Drehung zur Bahn (am linken Bildrand) wurde zu eng angelegt (Zeitangaben in UTC) (Foto: BFU)

In 1700 Fuß MSL schaltet die Pilotin die Steueranlage aus und fliegt manuell weiter. Um 10.31 Uhr ist der Tiefdecker nur noch 400 Meter von der Schwelle entfernt, aber noch in 1200 Fuß MSL – und damit 750 Fuß über dem 454 Fuß hohen Platz. Der Pilotin wird offenbar klar, dass sie für eine Landung zu hoch ist, sie quert die Anfluggrundlinie und kurvt nach links, wohl mit dem Ziel, nach einer 180-Grad-Drehung in den Queranflug zu kommen. Das Flugzeug rollt dabei mit 105 bis 115 Knoten in bis zu 40 Grad Querlage. Dann verringert sich die Querneigung auf 5 Grad. Nach der 180-Grad-Drehung kreuzt die Maschine erneut die Bahnachse und dreht bei Vollgas mit 55 Grad Querneigung nach links Richtung Bahn. Kurz darauf prallt das Flugzeug mit hoher Längsneigung in ein Waldgebiet.

Absturz des Viersitzers: Keine Chance auf Überleben

Alle vier Insassen verlieren beim Aufschlag ihr Leben. Motor und Instrumentenpanel der Maschine werden bis zu den hinteren Sitzen ins Wrack hineingedrückt. Durch die Wucht des Aufschlags hat das Rettungssystem der Cirrus am Boden ausgelöst. Die Aufzeichnungen von PFD und MFD sowie die ergänzende Auswertung der Radardaten durch die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) in Braunschweig zeigen bei den folgenden Ermittlungen, dass die SR22 während der hohen Querneigung in der letzten Linkskurve nur noch 78 Knoten Fahrt hatte. Im Betriebshandbuch wird vom Hersteller bei 60 Grad Querneigung eine Überziehgeschwindigkeit von 99 Knoten angegeben – bei MTOM. Doch es zeigt sich, dass die SR22 mit vier Personen vollgetankt gestartet und zum Unfallzeitpunkt noch mit etwa 62 Kilo überladen war; in Katowice waren es sogar 179 Kilo zu viel.

Die Wettermeldungen am Flugplatz Bielefeld belegen schwieriges Wetter: 7000 Meter Sicht in leichten Regenschauern, vereinzelte Wolken in 1100 Fuß über Grund, durchbrochene Wolken in 1700 Fuß. Zwar gelten für einen Flugregelwechsel von IFR nach VFR reduzierte Sichtbedingungen: Der Pilot muss 3000 Meter Flug- sowie Erdsicht haben und frei von Wolken bleiben. Doch mit großer Wahrscheinlichkeit hatte die Cirrus-Pilotin den Wetterberichten zufolge beim Flugregelwechsel sowie danach zumindest zeitweise keine Erdsicht. Aufgrund der gewählten Anflugplanung sank die Maschine erst direkt am Platz unter die Wolken – in einer Position, aus der eine Landung nicht direkt möglich war. Beim nachfolgenden Manövrieren war die Pilotin vermutlich darauf konzentriert, den Platz nicht außer Sicht zu verlieren. Dabei unterschritt sie die durch Überladung erhöhte Stall Speed.

Typische Risiken: Druck auf den Piloten, am Zielflugplatz zu landen

Im Unfallhergang finden sich typische Risiken für die IFR-Fliegerei mit kleinen Maschinen. So gab es erheblichen Druck, in Bielefeld zu landen und nicht am mit ILS-Anflügen ausgestatteten Ausweichplatz Paderborn, denn die Passagiere wurden am Boden von Geschäftspartnern erwartet. Auch erzeugt die Aufforderung „report ready to cancel IFR“ des Lotsen bei Erreichen des geplanten Punkt für den Flugregelwechsel bei vielen Piloten den Druck, nach VFR weiterzufliegen, obwohl das Wetter nicht die erforderlichen Bedingungen erfüllt.

Nicht überlebbar: Die Kabine wurde beim Aufprall zerstört, das Rettungssystem löste dabei aus (Foto: BFU)

Das sichere und gesetzlich vorgeschriebene Vorgehen wäre in dieser Situation, einen Alternate mit IFR-Anflugverfahren anzusteuern und eventuell von dort den eigentlichen Zielflugplatz nach VFR anzusteuern, wenn es die Wolkenuntergrenzen und Sichten erlauben. Dies ist der sogenannte cloud break approach, mit dem man sicher unter die Wolken gelangt. Bei grenzwertigem, aber in der Platzrunde noch fliegbarem Wetter erliegen IFR-Piloten an VFR-Plätzen immer wieder der Versuchung, mit selbstgestrickten „VIFR“-Verfahren anzufliegen. Wohl wissend, dass der Rahmen der Legalität verlassen wird, legen sie solche Anflüge oft zu dicht am Platz an, sodass enge Kurven bei schlechtem Wetter und in Bodennähe erforderlich sind. Dabei wirkt sich eine Überladung der Maschine besonders stark aus.

Ebenfalls typisch ist, dass genau dann, wenn die mentale Kapazität für die Kontrolle des Flugzeugs von der Suche nach der Bahn und der Einteilung des Anflugs eingeschränkt wird, viele Piloten den Autopiloten deaktivieren, obwohl er sie genau in dieser Situation entlasten könnte. Steilere Kurven als sie ein Autopilot fliegt, sind in diesem Fall ohnehin nicht angebracht. Grundsätzlich bleibt angesichts der Möglichkeiten für IFR-Anflüge auf Basis von GPS und EGNOS die Frage, ob nicht der Flugsicherheit wesentlich gedient wäre, wenn es kleinen Flugplätzen so leicht wie möglich gemacht wird, solche Instrumentenanflugverfahren einzurichten.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 5/2013

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