REISEN

Nils Holgersson auf der Spur – Mit der Cessna 172 durch Schweden

Der Held des Romans von Selma Lagerlöf muss auf seiner Reise mit
den Wildgänsen wohl ähnliche Eindrücke vom Süden Schwedens aus der Luft gewonnen haben wie unser Autor im sommerlichen Skandinavien.

Von Gernot Krämer
Bis in den Schärengarten Der Vorbeiflug an Göteborg eröffnet den Blick über die Stadt am Fluss Göta älv entlang bis aufs Meer und die vorgelagerten Inseln

Heute gibt es „Flying Fish“, bekommen wir zu hören, als wir nach der Landung in Höganäs das Clubhaus betreten. Wir sind zum ersten Mal an diesem schwedischen Platz gleich hinter der dänischen Grenze bei Kopenhagen – und völlig ahnungslos. Also lassen wir es uns erklären: Im Sommer wird im Vereinsheim des Nordvästra Skånes Flygklubb jeden Dienstagabend aufgetischt. Dann gibt es ofengebackenen Hering mit Kräutern und Zwiebeln auf Brot. Wer mag, kommt vorbei – egal ob mit oder ohne Flugzeug. 

Was für ein toller Auftakt unseres fünftägigen Fliegerurlaubs, der am Mittag in Eggersdorf (EDCE) östlich von Berlin begonnen hat. Unsere Idee: Schweden aus der Luft erkunden wie der Däumling Nils Holgersson bei seiner wundersamen Reise mit den Wildgänsen in Selma Lagerlöfs Roman. Allerdings fliegen wir, anders als im Buch, im Uhrzeigersinn. 

Unser Flugzeug ist die Cessna 172M des Aeroclubs Fürstenwalde, am Steuer wechseln mein Freund Andrew Hoffmann und ich uns ab. 

Sommeridylle auf einer der unzähligen Schäreninseln.

Alles perfekt organisiert in Höganäs

Wir sind nicht die einzigen Berliner in Höganäs (ESMH). Neben uns parkt eine Cessna 172 des Hanseatischen Fliegerclubs, des unter anderem am Flugplatz Schönhagen ansässigen Luftsportclubs der Lufthansa. Und auch aus Frankreich sind Gäste da. Die Stimmung beim gemeinsamen Abendessen ist herzlich, wir bekommen allerlei Tipps für unsere Reise.

Übernachten können wir in einem der fünf Zimmer mit insgesamt 17 Betten, die Besuchern zur Verfügung stehen: einfach, aber günstig und bequem. Alles ist perfekt organisiert, von der Self-Service-Küche mit Tiefkühlgerichten (falls man nicht, wie wir, einen gedeckten Tisch vorfindet) über den Apothekenschrank für Notfälle bis zum Briefing-Bildschirm mit aktuellem Wetterradar und dem Flugverkehr in der Umgebung. 

In Höganäs gilt das skandinavische Grundvertrauen

Zum Bezahlen kreuzt man auf einer bereitliegenden Liste an, was wir gehabt oder benutzt haben, zum Beispiel Übernachtung, Handtuch, Essen, Kaffee, Eis, Getränke – und hinterlegt das Geld, wenn gerade keiner vom Club da ist. Das ist die schöne skandinavische Kultur des gegenseitigen Vertrauens. 

Der Mittwochmorgen ist grau und windig. Wir leihen zwei der im Schuppen stehenden Fahrräder aus und fahren zum Frühstück in die nahegelegene Kleinstadt und zum Hafen. Dann wollen wir weiter nach Göteborg. Wir machen die Maschine startklar. 

Die Flugstrecke führt durch die Kontrollzonen von Ängelholm und Halmstad am Kattegat entlang der schwedischen Westküste. Zur Linken liegt das in der Sonne schimmernde Meer, in der Ferne sind die dänischen Inseln Anholt und Læsø zu erkennen. 

Einzigartiger Anflug auf Göteborg Säve (ESGP)

Zuerst aber passieren wir direkt nach dem Start die zerklüftete Halbinsel Kullaberg, die zu den spektakulärsten Naturdenkmälern Südschwedens gehört und von Selma Lagerlöf eindrucksvoll beschrieben wird. Zu diesem Ort, wo sich im Frühjahr die Vogelwelt versammelt, reist Nils Holgersson auf dem Rücken eines Storchs, der »ein Meister im Fliegen« ist und im Unterschied zu den Gänsen »viele Kunststücke« macht, sodass dem Jungen ganz bange wird. Andrew und ich halten es aber eher mit den Gänsen, schließlich sind wir in einer Cessna 172 unterwegs. 

In Göteborg haben wir uns nicht für den Verkehrsflughafen Landvetter, sondern den General-Aviation-Flugplatz Säve (ESGP) entschieden, aber auch der hat eine Kontrollzone und liegt leider etwas außerhalb. Dafür ist der Anflug von Süden über die Pflichtmeldepunkte Agnesberg und Tagene ein Erlebnis, führt er uns doch im Halbkreis um die Stadt herum, sodass wir deren Lage am breiten Unterlauf des Flusses Göta älv bis hinaus in den Schärengärten überblicken können.

PPR-Code und Jugendherbergsabend: Göteborgs Erkundungen

Mit der online beantragten PPR-Genehmigung kam auch ein Code, der benötigt wird, um das gut gesicherte Gelände durch ein Tor zu verlassen. Dann sind wir im Vandrarhem, wie die Jugendherbergen hier heißen. Ich brauche jetzt erst mal ein Abendessen und ein Bier.

Danach erlaufe ich mir die zweitgrößte Stadt Schwedens von der Hafenpromenade am markant rotweißrot gestreiften Hochhaus mit dem Spitznamen »Lippenstift« vorbei bis zum Aussichtspunkt an der Festung Skansens Kronan. Eben die ganze »reiche Handelsstadt mit ihren Brücken und Kanälen und prachtvollen Straßen«, wie es im Roman heißt. 

Abendlicher Glanz: Der Hafen von Göteborg lohnt einen Spaziergang.

Am Donnerstag wollen wir quer über den Süden Schwedens nach Stockholm. Wir diskutieren, ob wir dort den innenstadtnahen Flugplatz Bromma anfliegen sollen, an dem mich vor allem der vielgerühmte Anflug mit Blick auf die Altstadt reizt. Die hohen Gebühren (siehe Randnotiz) sprechen allerdings dagegen. So entscheiden wir uns für den in ländlicher Umgebung gelegenen Grasflugplatz Skå-Edeby (ESSE) westlich der Hauptstadt. 

Zwischenstopp am Vätternsee: Überwältigende Weite und strahlendes Blau

Es soll aber nicht in einem Rutsch ans Tagesziel gehen, sondern mit einer Pause am Inselflugplatz Visingsö (ESSI) im Vätternsee. Als wir uns von Westen dem Gewässer nähern, in das der Bodensee dreieinhalb Mal hineinpassen würde, sind wir überwältigt von seiner Weite und dem strahlenden Blau.

Zugang zu Stockholm: Skå-Edeby liegt mit zwei gekreuzten Bahnen westlich der schwedischen Haupstadt.

Es ist tatsächlich genau wie in Lagerlöfs Beschreibung des Vätternsees, der »glänzend dalag und leuchtete, als wäre er nicht mit Wasser gefüllt, sondern mit blauem Licht«. Überhaupt erstaunt es, wie genau die Autorin, die ja nie geflogen war, als 1907 ihr Roman erschien, sich die Welt von oben vorzustellen vermochte. 

Landung am Nordspitz-Paradies: Ein Flugplatz mit maritimem Charme

Der Flugplatz an der Nordspitze der Insel liegt direkt am Wasser neben einem Golfplatz und ist üblicherweise nicht besetzt. Wir suchen den Windsack und die passende der gekreuzten Bahnen. Nach dem Abrollen kommt sofort Ferienstimmung auf. Die Landegebühr beträgt 60 Schwedenkronen, aber da wir keine haben, werfen wir sechs Euro in den Briefkasten. Groß rechnen macht in Schweden keinen Sinn, man muss bloß eine Null weglassen. 

Am unbesetzten Platz Visingsö wird die Landegebühr im roten Häuschen hinterlegt. Drinnen kann man auch übernachten – und vor der Tür stehen Mietfahrräder.

Obwohl wir für das nächste Leg keine zwei Stunden brauchen, bekommen wir über den dünn besiedelten Gegenden Östergötlands und Södermanlands, wo sich unermessliche Wälder mit Seen abwechseln, einen Eindruck von der schieren Größe Schwedens. 

Auch Skå-Edeby ist genau besehen ein Inselflugplatz, aber das ist im Gewirr der Landzungen im Mälarsee nicht leicht zu erkennen und fällt uns erst später auf. »Es ist etwas Eigenes mit dem Mälaren«, schreibt Lagerlöf, »er besteht fast nur aus engen Passagen, Buchten und Sunden.« Flugplatzchef Jarl, ein liebenswürdiger Mensch mit feinem Humor, bestellt ein Taxi und wir handeln mit der Fahrerin einen Fixpreis von 600 SEK bis zum Hotel in Stockholm aus.

Da sie aus dem Transport aber eine kleine Sightseeing-Tour für Stockholm-Neulinge macht und auch kurz an der beeindruckenden, königlichen Sommerresidenz Schloß Drottningholm hält, geben wir ihr gern noch ein Trinkgeld. 

Stockholm hätte viel mehr als nur einen Tag verdient

Von den Herrlichkeiten Stockholms bekommen wir wegen der unangemessenen Kürze unseres Aufenthalts nur eine erste Ahnung. Vom wunderschönen Hotel im Viertel Norrmalm laufen wir «den Berg runter» zum Reichstag, gleich dahinter befindet sich die Altstadtinsel Gamla Stan mit dem königlichen Schloss und vielen anderen Sehenswürdigkeiten. Die »Museumsinsel« Skeppsholmen ist unbedingt einen Besuch wert – und natürlich das Wasa-Schiff aus dem 17. Jahrhundert. 

Als wir am nächsten Morgen wieder draußen in Skå-Edeby sind, zeige ich einem der ortsansässigen Piloten die geplante Route und frage, ob er eine Freigabe für möglich hält. »Aber natürlich«, sagt er lachend, »aber bleibt von Schloss Drottningholm weg, mit Paparazzi versteht man dort keinen Spaß!«

Lebenstraum: Die Schären von oben

So kommen wir zu unserem Sightseeing-Flug über »die Stadt, die auf dem Wasser schwimmt«, wie Stockholm bei Nils Holgerssons gefiederten Freunden heißt. Der Eindruck läßt sich aus dem Cockpit ganz leicht nachvollziehen. Die besondere Lage auf einer Vielzahl von Inseln erfordert jede Menge Brücken – unzählige große und kleine Boote fahren ständig hin und her. Danach gehen wir auf Südwestkurs und fliegen an der Küste entlang zum nächsten Stopp.

Für mich geht ein Lebenstraum in Erfüllung: einmal die Schären von oben sehen. Stegeborg (ESVE) ist uns in Höganäs empfohlen worden: ein 800-Meter-Grasplatz in malerischer Umgebung am Slätbaken-Sund. Die Bahn liegt zwischen Kornfeldern, in fußläufiger Entfernung befindet sich eine Marina mit Hafenrestaurant, dazu gibt es auf einer Felseninsel eine Burgruine.

Der Grasplatz Stegeborg liegt dicht an einer Marina mit Restaurant – und nah an der Küste mit ihrem Schärengarten.

Über allem liegt tiefer sommerlicher Frieden. Andrew legt sich ins Gras und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Ich laufe ein bisschen herum, springe eine kleine Böschung hinauf – und da passiert’s. Noch bevor ich es spüre, kann ich das Geräusch hören: als würde ein Gummiband zerreißen. Dann fährt mir ein Schmerz in die Wade und ich kann nur noch humpeln. Ich setze mich auf einen Stein und google: Muskelfaserriss, Muskelriss, Sehnenriss … Was ich finde, lässt mich auf einen Muskelfaserriss tippen (die Ärzte daheim werden es bestätigen).

Kurs auf Eslöv über Småland und Astrid Lindgrens Welt

Immerhin merke ich, dass das Bein in Ruheposition kaum schmerzt. Was jetzt helfen könnte: ein Griff in den Kilobeutel Trockenfrüchte, den ich seit Reisebeginn dabei habe und immer dann hervorhole, wenn es anstrengend oder langweilig wird oder etwas schiefgegangen ist. Das ist schon längst ein Running Gag, weil Andrew gar nicht glauben kann, dass in dem Beutel immer noch was drin ist. 

Dann machen wir uns bereit, drehen eine Ehrenrunde und nehmen Kurs auf Eslöv (ESME), unserem letzten Reiseziel in Schweden. Allmählich entfernen wir uns von den Ostsee und fliegen über Småland, das dem luftreisenden Nils Holgersson wie ein zerrissener Teppich auf einem großen Spiegel vorkommt: dichter Wald, immer wieder unterbrochen von Seen, die das Himmelslicht reflektieren.

Die Kreide der Felsen auf der dänischen Insel Møn färbt das Meer milchig grün. Quer über die Ostsee sind die Kreideklippen der deutschen Insel Rügen gerade eben zu erkennen – und weniger hoch.

Unterwegs statten wir einer anderen großen schwedischen Schriftstellerin einen Kurzbesuch ab: Astrid Lindgren, die in der Kleinstadt Vimmerby aufwuchs und deren Bücher, wie alle Kinder wissen, meist in Småland spielen. Heute wird der Ort zumindest aus der Luft vom Erlebnispark »Astrid Lindgrens Welt« dominiert.

Die Kreideküste auf der dänischen Insel Møn ist aus der Luft am schönsten

 In Eslöv schmerzt es mich ein wenig, Andrew beim Tanken, Verzurren, Ausladen nicht helfen zu können. Mit dem Taxi geht es ins Hotel.Dann steht auch schon der letzte, der Rückreisetag an: Als erstes überfliegen wir die bäuerlich geprägte südlichste Provinz Skåne (Schonen), von der Nils Holgersson meint, dass sie mit ihren vielen rechteckigen Feldern »wie ein kariertes Stück Tuch« aussehe. An der alten Universitätsstadt Lund und der Großstadt Malmö vorbei geht es über den Öresund nach Dänemark. 

Ein ganz wichtiges Anliegen habe ich noch: Ich möchte die Kreidefelsen auf der dänischen Insel Møn einmal aus der Luft sehen, die noch höher und eindrucksvoller sind als die auf Rügen. Und so fliegen wir ein schönes Horn in die Kurslinie, ehe es dann auf geradem Weg zurück geht. Nach der Landung in Eggersdorf hole ich das letzte Stückchen aus der Trockenfrüchte-Tüte, dann ist Schluss. 

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Gernot Krämer

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