Praxis

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Strömungsabriss

Ob die Luft eng an der Flügelkontur anliegt, 
hängt vor allem vom Anstellwinkel ab. Wird der zu groß, löst sie sich von 
der Oberfläche, egal bei welcher Geschwindigkeit – das Flugzeug stallt

Von Redaktion
Ausgereizt: Wird der Anstellwinkel zwischen Anströmrichtung (orangefarbiger Pfeil) und Profilsehne (rote Linie) zu groß, droht ein Strömungsabriss

Strömungen gibt es in der Luft und im Wasser. Doch in einem Fluss sieht man besser, wie sie fließen und sich verändern. So hat das Fließmuster des Wassers um einen Brückenpfeiler, auch wenn der ein eher plumpes Profil hat, viel Ähnlichkeit mit dem der Luft um einen Flügel. Man erkennt gut den Staupunkt, hinter dem sich die Strömung teilt und um das Profil herum weiterfließt (anliegende Strömung). Ist das Profil oben stärker gewölbt als unten und/oder wird es gegenüber dem Luftstrom angestellt, entsteht Auftrieb. Bei zu hohem Anstellwinkel kann die Strömung der Profilkontur nicht mehr folgen und sie beginnt, sich von der Flügelhinterkante her abzulösen. Diese verwirbelte Zone breitet sich wie ein Keil nach vorn aus, bis die Strömung nirgends mehr anliegt – sie ist abgerissen.

Der Strömungsabriss hängt vom Anstellwinkel ab

Eine Tragfläche hat, wie der Brückenpfeiler, aus statischen Gründen eine gewisse Dicke, doch sie ist viel schlanker, da es beim Flugzeug neben dem Auftrieb auch um Widerstandsarmut geht. Widerstand wirkt in Strömungsrichtung – und verändert sich mit dem Anstellwinkel. Man muss nur mal die Hand wie einen Flügel aus einem fahrenden Auto halten: Sobald man die Hand schräg nach oben kippt, spürt man den Auftrieb. Je steiler die Anstellung, desto größer wird der Auftrieb – aber auch der Widerstand. Wenn man die „Anstellung“ übertreibt, reißt der Fahrtwind die Hand nach hinten.

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Der Strömungsabriss hängt einzig vom Anstellwinkel ab – und deshalb nicht nur von der Geschwindigkeit, sondern auch vom Gewicht der Maschine und eventuellen Beschleunigungen. Dennoch gilt: Je geringer die Speed ist, desto größer muss der Anstellwinkel sein, damit noch genug Auftrieb erzeugt wird. Umgekehrt gilt: Je kleiner der Anstellwinkel, desto größer die nötige Geschwindigkeit, um den gleichen Auftrieb zu erhalten. Doch auch bei Vollgas folgt die Strömung ab einem bestimmten Winkel nicht mehr der Profilform.Die Geschwindigkeit, bei der es zum Strömungsabriss kommt, heißt Stallspeed. Im beschleunigungsfreien Geradeausflug ist sie als Vs mit dem unteren Rand des weißen Bogens auf dem Fahrtmesser markiert.

Warnsignale vor dem Stallen

Für einen nahenden Strömungsabriss gibt es natürliche und künstliche Anzeichen. Wie im Wasser macht er sich durch Wirbelbildung auf der Tragflächenoberseite und durch das Auftreffen dieser Turbulenzen am Heckleitwerk bemerkbar. Die Steuerung wird schwammig, und der Pilot spürt ein Schütteln. Künstliche Warneinrichtungen können aus Luftstolperkanten an der Flügelvorderkante bestehen, die hier schon vorzeitig einen Strömungsabriss verursachen und ein schmales Turbulenzband am Höhenleitwerk auftreffen lassen.

Bevor der Pilot erste Symptome eines Strömungskollapses fühlt, alarmiert ihn die Stall Warning. Das ist oft eine Öffnung an der Flügelvorderkante, die bei hoher Anstellung, also Anblasung von schräg unten, in den (oberen) Unterdruckbereich des Flügels gerät und einen Ton auslöst. Oder eine kleine Blechlippe, die im normalen Flugzustand unterhalb des Staupunkts abwärts gedrückt bleibt. Vor Erreichen des maximalen Anstellwinkels wird sie von der Strömung nach oben gehoben und löst so ebenfalls einen Warnton aus. Außerdem gibt es Meßsonden, die außerhalb des Propellerstrahls liegen. Winkelmesser in Form von horizontalen Wetterfahnen signalisieren den Bereich des Anstellwinkels, in dem sich das Flugzeug sicher durch die Luft bewegt. Solche angle of attack indicator sind in der Allgemeinen Luftfahrt allerdings selten.

Der kritische Anstellwinkel

Der Anstellwinkel, bei dem die Strömung abzureißen beginnt, heißt kritischer Anstellwinkel. Damit er nicht überall am Flügel gleichzeitig erreicht wird, der Auftrieb also schlagartig zusammenbricht, schränken manche Konstrukteure die Tragfläche: Sie verwinden sie so, dass der Anstellwinkel an der Flügelwurzel kleiner ist als am -ende (geometrische Schränkung). Eine Änderung des Profils, bei der es am Flügelende einen höheren kritischen Anstellwinkel hat als im Innenbereich, hat die gleiche Funktion (aerodynamische Schränkung). Wird die Maschine immer steiler angestellt, reißt die Strömung erst innen ab, während die Außenbereiche mit anliegender Strömung versorgt bleiben. Sie liefern weiterhin Auftrieb, und das Flugzeug bleibt steuerbar, weil die Querruder nach wie vor angeströmt werden.

Kurvenstall: Erst wenn der Pilot die Nase hunternimmt, liegt die Strömung wieder an. Anschließend korrigiert 
er mit dem Querruder die Schräglage

Da der Strömungsabriss an einer geschränkten Tragfläche mit zunehmendem Anstellwinkel schrittweise passiert, wirkt er sich harmloser aus, der Pilot hat mehr Zeit zu reagieren. Wenn am rumpfnahen Flügel der Auftrieb zusammenbricht, merkt der Pilot das nicht nur durch Schütteln, sondern auch durch Auftriebseinbuße. Reagiert er schnell, indem er die Flugzeugnase senkt, kann er den kritischen Zustand ohne großen Höhenverlust beenden.Bei Vögeln kann man einen anderen Kunstgriff gegen einen frühzeitigen Stall beobachten: In ihrem „Oberarmbereich“ stellen sich bei großer Anstellung der Flügel Federreihen auf und verhindern so eine Ausbreitung der Turbulenzzone über die gesamte „Tragfläche“.

Ruder nur sanft bewegen

Im Langsamflug beziehungsweise ohne Motorleistung tritt der Strömungsabriss symmetrisch auf. Das heißt, er wird weder durch den Korkenziehereffekt des Luftschraubenstrahls noch durch den unsymmetrischen Propellerschub noch durch den Torque-Effekt beeinflusst. Allerdings: Wer im Langsamflug einem drohenden Stall durch zu abruptes und heftiges Gasgeben begegnen will, kann all diese Momente plötzlich und sehr stark hervorrufen – und das Flugzeug damit in eine typische Abkippbewegung führen. Auch ein reflexartiger Querruderausschlag kann an dem abwärts ausgeschlagenen Ruder die Strömung schlagartig völlig kollabieren lassen. Denn an dem sinkenden Flügel wird durch die zusätzliche vertikale Anströmkomponente der Anstellwinkel weiter erhöht. Anstatt den Flügel anzuheben, sinkt der um so mehr.

Falsche Reaktion: Bei hohem Anstellwinkel 
führt ein „aufrichtender“ Querruderausschlag 
zum Stall. Neutrales Steuer und Gegenseitenruder beendet das Trudeln bei den meisten Mustern

Beim Strömungsabriss mit dem Seitenruder steuern

Ein leichter Seitenruderausschlag hilft dagegen, die „fallende“ Tragfläche so weit zu beschleunigen, dass sich beide Flügel wieder in gleichen Anströmbedingungen bewegen und man die Richtung hält. Im Schiebezustand entsteht am rumpfnahen Flügelbereich leeseitig ein Windschatten – die auftriebserzeugende Fläche wird verringert, und die Mindestgeschwindigkeit steigt. In Langsamflugphasen muss Schieben verhindert werden, etwa im Anfangssteigflug oder kurz vor der Landung. Das beste Mittel gegen das Ausbreiten eines Strömungsabrisses ist vorrangig das Nachlassen des Höhenruders (aber ohne zu rasches Nachdrücken)  – und damit die Verringerung des Anstellwinkels.

Grundsatz: im überzogenen Flugzustand stets neutrale Querruder

Unter g-Beschleunigung tritt der Strömungsabriss viel früher ein, denn die Stall- speed steigt abhängig vom Beschleunigungsfaktor. Bestes Beispiel ist die Horizontalkurve mit 60 Grad Schräglage: Eine Stallgeschwindigkeit von 50 Knoten im Geradeausflug steigt auf 70,5 an, entsprechend der Formel Vs x 1,41 (Wurzel des Lastvielfachen 2). Daher kann ein Flugzeug nahe der Stallspeed während einer Kurve eher vom Himmel fallen als im Geradeausflug. Der Auftriebszusammenbruch muss dabei nicht immer zu einer Erhöhung der Querneigung führen: Je nach Strömungs- und Schiebezustand kann das Flugzeug auch zur Außenseite kippen. Gegenmittel: Höhenruder nachlassen oder behutsam drücken, eventuell Querruder neutralisieren und das Seitenruder gegen die Drehrichtung ausschlagen.

Immer der Warnung glauben

Gerade bei langsamen „Verwandtenbesuchen“ glaubt man häufig nicht der trötenden Stallwarnung – oft mit tödlichen Folgen. Doch die Vorrichtungen haben immer Recht: Es ist allein der Anstellwinkel, der den „gesunden“ Flugzustand beendet, wenn er zu groß ist. Bei traditionellen Profilen, die von vorn bis hinten turbulent umströmt werden, liegt das Maximum bei ungefähr 14 Grad. Moderne Laminarprofile, bei denen die Strömung über weite Bereiche turbulenzfrei anliegt, vetragen normalerweise ein paar Grad weniger. Der kritische Anstellwinkel kann durch Klappensysteme an der Flügelvorder- oder -hinterkante erhöht und damit der Strömungsabriss verzögert werden. So lässt sich die Stallspeed senken, die Maschine kann langsamer fliegen.

Kreiselkräfte: Nach dem Strömungsabriss nickt 
das Flugzeug und rollt gegen die Drehrichtung des Propellers. Zusätzlich giert es nach links, weil der rechtsdrehende „Kreisel“ gekippt wird

In grenzwertigen Flugbereichen machen sich Antriebskräfte stärker bemerkbar. Dazu gehört die Kreiselwirkung der Luftschraube. Nimmt man eine schnell rotierende Propellerkreisebene mit schweren Blättern, kann sie wie ein Kreisel wirken. Wird er gekippt, entsteht eine seitwärts gerichtete Kraft (Präzession). Im Bild nickt das Flugzeug nach dem Strömungsabriss, wodurch der „Kreisel“ die Nase nach links zieht. Der linke Flügel wird verlangsamt und sinkt – die Maschine kippt nach links ab.

Selbsterhaltungstrieb

Prinzipiell gilt: Flugzeuge sind so konstruiert, dass sie sich nah an einem Grenzflugzustand von selbst fangen und eine kontrollierte Lage einnehmen. Führt man den Stall bewusst herbei, spürt man, wie sich die  Maschine gegen ein Überschreiten der Strömungsparameter sträubt. Wer aufmerksam ist, kann diese Anzeichen nicht übersehen – und Gegenmaßnahmen ergreifen. Regelmäßiges Üben hilft und bringt Sicherheit, damit man nicht durch falsche Reaktionen die Situation verschlimmert.

Text und Zeichnungen: Helmut Mauch, Illustrationen: Eric Kutschke

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