Unfallakte

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UL-Unfall im Tiefflug: Verwandtenbesuchskurve im Remos G 3

Der Reiz ist groß – doch wer im Tiefflug irgendwo mal schnell vorbeischaut, geht ein hohes Risiko ein

Von Redaktion

Es ist das alte Lied von der „Verwandtenbesuchskurve“, das immer wieder angestimmt wird. Und immer wieder schlägt die Melodie in Moll um, die letzte Strophe endet tragisch. Mit dem Flugzeug bei Freunden vorbeischauen und diese ordentlich beeindrucken – diese Idee hatte es auch einem brandenburgischen UL-Piloten angetan. Nach Berichten von Augenzeugen drehte er gerne ab und zu im Tiefflug über dem Haus eines Freundes seine Kreise – manchmal soll er sogar auf der Wiese neben dessen Grundstück gelandet sein. Eine ungewöhnliche (und illegale) Kontaktpflege, die offenbar nicht jedem im Ort gefiel. Manche Anwohner, so heißt es, machten ihrem Ärger mit wilden Drohungen Luft: „Beim nächsten Mal wird er abgeschossen“, soll ein Nachbar in seiner Wut geschimpft haben.

Diese Drohung scheint den UL-Piloten nicht abgeschreckt zu haben; der 68-Jährige will auch am 5. April 2009 wieder in die Luft, um seinen Freund zu besuchen. Ziel: der kleine Ort Wüstemark südwestlich von Berlin. Für diesen Tag verspricht der Deutsche Wetterdienst (DWD) beste Sichtflugbedingungen: Wind mit sechs Knoten aus nordwestlicher Richtung, zwei Achtel Cumulus-Wolken mit Untergrenzen in 2600 Fuß über Grund und viel Sonne. Der Remos-Pilot startet nachmittags mit seiner GX von der 400 Meter langen Graspiste des Sonderlandeplatzes Locktow. Nach Verlassen der Platzrunde nimmt er Kurs auf den Weiler Wüstemark. Dort wird er gegen 16.44 Uhr beobachtet.

Remos GX: Kontrollverlust in Bodennähe

Zeugen berichten, dass er die Ortschaft bereits in sehr geringer Höhe aus nördlicher Richtung ansteuert und dann in etwa 50 Meter über Grund das „Zielobjekt“ am östlichen Rand der Siedlung umfliegt. Anschließend macht das Ultraleichtflugzeug einen Bogen um die Ortschaft herum, um an der westlichen Ortsgrenze in Richtung Osten zu drehen und noch weiter zu sinken. Etwa zehn Meter über dem Boden passiert die Maschine die Dorfstraße, dann beschleunigt der Pilot und geht in einen steilen Steigflug mit nach rechts geneigter Flugbahn über. In knapp 50 Meter Höhe kippt die Maschine plötzlich nach rechts ab und stürzt senkrecht auf einen Feldweg, direkt neben das Grundstück des Freundes, den der UL-Flieger besuchen wollte. Der Pilot wird dabei tödlich verletzt.

Riskanter Klassiker: die „Verwandtenbesuchskurve“ als tödliche Falle (Foto: Helmut Mauch)

Der Rumpf ist in Höhe des Cockpits völlig zerstört, das Bugradfahrwerk vom Rumpf abgerissen. Die Hauptfahrwerksschwinge ist ebenfalls aus dem Rumpf herausgebrochen. Spuren eines Holzpfostens, den die Maschine beim Aufprall vermutlich getroffen hat, finden sich an der Bruchstelle. Beim Auslesen des FLYdat, das die Motorbetriebsdaten erfasst und aufzeichnet, entdecken die Ermittler der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) keine Hinweise auf einen technischen Defekt am Triebwerk, einem Rotax 912. Der Motor wurde beim Aufschlag tief in den Boden gedrückt, der Propeller ist vollständig zersplittert – ein Hinweis auf hohe Drehzahl zum Zeitpunkt des Aufpralls.

Im Tiefflug einen Freund Besuchen

Am Wrack stellen die Unfallermittler außerdem fest, dass alle Steueranschlüsse noch intakt sind. Die Seitenruderseile zeigen keine Rissstellen, auch an den Pedalen ist kein Bruch feststellbar. Schäden und Deformierungen am Rudergestänge sind auf den heftigen Aufschlag zurückzuführen. Die Landeklappen sind in der Position „eingefahren“. Offenbar hat das plötzliche Abschmieren den Piloten völlig überrascht: Das Rettungsgerät wurde nicht aktiviert. In so geringer Flughöhe hätte es ohnehin nicht mehr geholfen. Doch warum verlor der Pilot die Kontrolle über seine Maschine? Eine Erklärung könnte die einseitige Flugerfahrung geben: Der 68-Jährige besaß seit 1993 einen Luftfahrerschein für Luftsportgeräteführer mit Passagierberechtigung.

Gutmütige Allrounder: Die Remos G3 (hier zu sehen) hat etwas mehr Flügelfläche als ihre Nachfolgerin GX. Der Unfallpilot war auf die G3 „eingeschossen“ (Foto: Archiv)

Nach Angaben des Flugzeughalters hatte er eine Gesamtflugerfahrung von rund 300 Stunden, einen großen Teil mit der Remos G3. Im Gegensatz zur GX, dem Unfallflugzeug, hat die G3 eine knapp 50 Zentimeter größere Spannweite und über einen Quadratmeter mehr Fläche. Dadurch ist auch ihr Verhalten im unteren Geschwindigkeitsbereich gutmütiger – und die Überziehgeschwindigkeit etwas niedriger. Die GX dagegen gilt als agileres Flugzeug. Möglicherweise hatte der Unfallpilot das Flugverhalten der G3 bei wenig Fahrt so sehr verinnerlicht, dass er die Stallspeed der GX im Steigflug zu niedrig einschätzte und unterschritt. Durch die Querneigung des ULs nach rechts und die Beschleunigungskräfte beim Hochziehen könnte der Strömungsabriss noch beschleunigt worden sein. Ein Abfangen war in dieser geringen Höhe nicht mehr möglich.

Warum verlor der Pilot die Kontrolle über seine Maschine?

Eine andere Vermutung, der die BFU-Experten mit großem Aufwand nachgehen mussten, stellte sich im Laufe der Untersuchung als haltlos heraus: Die Drohung eines wütenden Anwohners, den Tiefflieger beim nächsten Anflug auf den Ort abschießen zu wollen, war offenbar nur eine verbale Attacke. Drei Unfallermittler waren dennoch einen ganzen Tag lang damit beschäftigt, das Wrack nach Einschusslöchern zu untersuchen, um diese Möglichkeit auszuschließen – was sie dann auch tun konnten.

Text: Samuel Pichlmaier, fliegermagazin 8/2012

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