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Fliegen in der kanadischen Arktis: Twin Otter über dem Eis

In der Arktis sind Flugzeuge überlebensnotwendig. Sie liefern Nahrung, wichtige Ersatzteile und garantieren medizinische Versorgung.

Von Redaktion

Cambridge Bay, kanadische Arktis, Außentemperatur: 45 Grad unter Null (dieser Bericht entstand 2005). Das geht eigentlich, denn am Tag zuvor hatten wir minus 55. Ich sitze auf der „Dagmar Aaen“, dem Expeditionsschiff von Arved Fuchs, und bereite mir mein Frühstück. Das Schiff ist im Eis eingefroren, und ich bin an Bord, um den Winter über die „Dagmar“ in Betrieb zu halten. Allein. Ein einsamer Job, denn die Winternächte sind hier endlos lang, und die Temperaturen schwanken zwischen minus 35 und minus 71 Grad. Celsius, wohlgemerkt. Cambridge Bay ist der letzte Ort auf dem Weg zum Nordpol. Keine Straße führt hierhin.

Die Inuitsiedlung 800 Kilometer nördlich von Yellowknife wird komplett aus der Luft versorgt. 800 Menschen leben hier, zu denen zeitweise noch zirka 300 „Kablunas“ kommen: weiße Kanadier, die technische Einrichtungen wie Generatoren, Wasserversorgung und das Airfield betreuen. Je nach Wetterlage landet einmal am Tag ein Kombifrachter vom Typ Boeing 737 C der „First Air“ mit Lebensmitteln, Gebrauchsgütern, Treibstoff und Ersatzteilen für technische Einrichtungen. Bei Schneesturm fehlt’s schon mal tagelang an Brot oder anderen notwendigen Nahrungsmitteln.

Adlair betreibt eine De Havilland Twin Otter

Cambridge Bay hat keine befestigte Runway, sondern einfach eine Schotterpiste, einen so genannten Gravelstrip. Ein ILS ist nicht vorhanden, aber es existieren VOR und NDB. Gelandet wird grundsätzlich nach Sicht. Ich höre Schritte im Eis, und wenig später steht Willy Laserich an der Reling und ruft: „Hi Rainer, komm wir fliegen“. Willy ist 72 Jahre alt und Inhaber der „Adlair“, einer kleinen, aber äußerst professionellen Fluggesellschaft mit Sitz in Yellowknife und Cambridge Bay. Adlair betreibt einige Beech-200, einen Learjet und eine De Havilland Twinotter. Beech und Learjet bedienen den Medivac-Service, der Kranke und Unfallopfer in der ganzen Region einsammelt und nach Yellowknife in die Klinik fliegt. Mit der Twinotter werden die oft Hunderte von Kilometern entfernten Inuitsiedlungen versorgt.

Willy habe ich am Airfield kennen gelernt, und als er erfuhr, dass ich einen CPL besitze, hat er mich spontan zum Fliegen eingeladen. Er kennt hier in der Arktis jede Eisscholle. Obwohl gebürtiger Deutscher, gilt er als einer der erfahrensten Buschpiloten Kanadas: mehr als 40 000 Flugstunden in 42 Jahren. Die Sorte Pilot, die noch fliegt, wenn andere sich nicht mal mehr mit dem Hundeschlitten vor die Tür wagen. Typ Haudegen, wortkarg, bescheiden und noch immer auf diversen Mustern bis hin zum Learjet unterwegs. Willy darf trotz seines Alters in Kanada noch kommerziell fliegen, weil es ein Antidiskriminierungsgesetz gibt, wonach niemand auf Grund seines Alters benachteiligt werden darf. Solange er seine Checkflüge absolviert und der Fliegerarzt den Stempel gibt, bleibt Willy in der Luft.

Erst mal auftauen: Heizdecken für die Triebwerke

Und in eben die soll es jetzt gehen. In seinem Pick-up die erste Frage: „Was fliegen wir, Passagiere oder Fracht?“ – „Beides.“ – „Aha, und wohin?“ – „Bathurst Inlet.“ Gut, ich weiß, dass Willy morgens noch nicht viel redet, und halte meine Klappe. Es gibt ja noch das Briefing. Wir kommen zum Flugplatz, da steht ein smarter Mittvierziger und wartet auf uns. Der Passagier. Einer! Ist auch gut, schleppen wir nicht so viel mit. Willy stellt mich vor. Sogleich will der Mensch wissen: „Kennst du die Internetseite von Cambridge Bay?“ Ich bejahe. „Hast du mich da gesehen?“ Kann schon sein. „Ich bin der Bürgermeister!“ Ich weiß, dass er es nicht ist. Er war’s mal und möchte es wieder werden. Demnächst sind Wahlen, und wir sollen ihn nach Bathurst Inlet fliegen, weil er dort ein paar Inuit von sich überzeugen möchte.

Die Twinotter C-GFYH steht in Dampfschwaden gehüllt auf dem Vorfeld, wird noch vorgewärmt, ist aber schon durchgecheckt. Die Heizdecken um die Triebwerke sind noch angeschlossen. Ein schneller Kaffee, kurze Flugbesprechung, und raus an die frische Luft. Der Techniker meldet das Flugzeug klar, wir steigen ein, rollen zur Runway, ein kurzes „Hallo“ zum Tower und Take-off. Berechnete Flugzeit 1:45 Stunden, Entfernung 240 Nautische Meilen. Mit einem Heading von 360 Grad geht’s rauf auf 6000 Füße. Hier oben ist die Sicht unbegrenzt. Keine Luftfeuchtigkeit, kein Industriedunst, nur die Arktis unter uns ist von leichten Nebelschwaden verschleiert. Mit 130 Knoten indicated hängen wir am GPS. Schweigen im Funk. Kontrollzonen und Regularien gibt es hier nicht! Ein Fliegerparadies unter Winterflugbedingungen. Aber extrem lebensfeindlich. Wer hier im Notfall runter muss, hat nur minimale Überlebenschancen. Weit und breit kein Mensch, und einen Hubschrauber kann man auch nicht alarmieren.

Ist nur zu hoffen, dass die Reichweite des Funkgeräts zum Tower in Cambridge Bay noch reicht. Ist man zu weit weg, geht auch das nicht mehr, und man muss sich darauf verlassen, dass irgendjemand den Flieger vermisst. Dann startet die Rettungsaktion per Skidoo, dem Motorschlitten. Willy erklärt mir die Landschaft, während wir unsere Spur ziehen. Unser GPS zeigt noch 17 Meilen bis Bathurst. Wir müssen langsam den Sinkflug einleiten. Inzwischen ziehen Berge unter uns durch, und auch unser Zielflugplatz liegt an einer Bergkante. Ich bin heilfroh, dass es runter geht, denn ich habe einen Fehler begangen, der einem alten Piloten eigentlich nicht mehr unterläuft: Ich war vor dem Start nicht noch mal „hinter dem Baum“! Unten am Airstrip gibt’s hoffentlich ein Herzhäuschen, denn der Kaffee meldet sich.

Wir sind im Anflug, ich suche den Platz. Im Tiefflug umkreisen wir eine kleine Ansammlung von Holzhütten. Frage an Willy: „Wo ist denn das Airfield?“ – „Keins mehr da.“ – „Wieso, auf meiner Karte ist das doch drauf.“– „Geschlossen.“ Feine Flugvorbereitung. Wir sind im Final auf diesen Häuserhaufen, und ich gucke mir die Augen aus dem Kopf. Alles weiß! Irgendwo müssen wir doch landen! Throttle auf idle, Klappen auf 20 Grad, Speed 80 Knots. 200 Fuß über Grund sehe ich plötzlich vier kleine rote Müllsäcke auf der Eisfläche: die Runway! Willy ist die Ruhe selbst. 40 Grad Klappen, abfangen bei 65, Schubumkehr, und der Vogel steht nach 200 Metern. Das ist die Twinotter. Meine erste Landung im Eis. Ich bin platt. So also machen die das hier. Sofort kommen zwei Skidoos mit dem Transportschlitten im Schlepp zur Maschine, bringen zwei neue Passagiere und etwas Fracht.

Landen auf dem Eis: Throttle auf idle, Klappen auf 20 Grad, Speed 80 Knots

Der „Bürgermeister“ wird zum Palaver ins Camp gefahren. Die Turbinen laufen wegen der Kälte weiter. Nur leider kein Herzhäuschen weit und breit. Also wandere ich ein paar Meter nach Osten … Jungs, macht das nie bei minus 45 Grad im Schatten! Ich möchte es nicht näher erklären, aber: Lasst es sein! Irgendwann ist die Fracht verstaut, der „Bürgermeister“ zurück und die Paxe angeschnallt. Wir rollen an den Anfang der markierten Eisfläche. Die Startstrecke zielt bedenklich in Richtung der Hütten auf dem Hügel und scheint mir extrem kurz. Willy tangiert das nicht: Der haut die Schubhebel bis zum Anschlag nach vorn, zieht mit null Klappen das Steuerhorn an den Bauch, drischt nach den ersten paar Metern die Klappen auf 20 Grad, und die Twinotter ist nach 150 Metern in der Luft.

Das gibt’s in keinem Film! Flachster Steigflug über die Dächer. Über einen Motorausfall mag ich gar nicht nachdenken. Als alter Helgolandflieger mit der Britten Norman Islander habe ich ja schon einiges mitgemacht, aber dass mit diesem Koffer ein solcher Steilstart machbar ist, habe ich nicht für möglich gehalten. Ich bin beeindruckt, Willy grinst. Dieses Verfahren steht garantiert in keinem Flughandbuch. Und wer bei dieser Art der Fliegerei seine Aerodynamik nicht im Kopf hat, wird schnell zum Kunden des örtlichen Beerdigungsunternehmers. Nach routiniertem Rückflug über die karge, kalte Schönheit der Arktis setzt mich Willy am Schiff ab und sagt trocken: „Also, bis Sonntag.“ – „Wieso?“ – „Da fliegen wir nach Bay Chimo und am Dienstag auch.“ Nach Bay Chimo also. Das Wetter ist am Donnerstag nicht so toll: Whiteout. Das heißt sehr geringe Sichten und das Gefühl, man bewege sich in einem weißen Ping-pong-Ball.

Dafür liegt die Temperatur bei nur minus 39 Grad. Take-off um 10.38 Uhr mit sieben Passagieren und reichlich Fracht an Bord. Bei 500 Fuß pro Minute Steigen geht’s auf einem Kurs von 210 Grad ab in die Suppe. Der Tower meldet sich, um uns mit den neuesten Wettermeldungen zu beglücken. Für den Nachmittag ist ein schwerer Schneesturm vorausgesagt, man möge sich etwas beeilen. Der Wind hat schon zugelegt, inzwischen donnern wir mit einer Groundspeed von 178 Knoten durch die Einsamkeit. Etwa zwölf Meilen vor dem Ziel beginnen wir den Sinkflug. Das GPS führt uns zielsicher auf einen Punkt in der weißen Wildnis. Hier ist Vorsicht geboten: Der Landestrip in Bay Chimo liegt zwischen den Bergen.

Draußen wird es dunkler – ein Zeichen dafür, dass es unter uns Landmassen gibt. Wir versuchen durch die Cockpitscheiben so etwas wie Konturen zu entdecken – nichts. Dann plötzlich ist alles frei. Willy legt die Twinotter in eine scharfe Linkskurve und überfliegt zweimal ein Tal, wo eigentlich die Piste sein sollte. Die ist natürlich eingeschneit und von hier oben nicht zu identifizieren. Also sinken wir zwischen die Berge. Willy nimmt Maß … mit 20 Grad Klappen und 80 Knoten Fahrt rauschen wir ins Nichts. Die Höhe ist kaum zu schätzen, doch mein Kapitän fängt plötzlich ab, und wir sitzen hangauf im Schnee! Wie macht der das bloß? Bewunderung bei mir, Gelassenheit bei den Inuit. Die kennen diese Anflüge schon und sind wenig beeindruckt. Wir haben es eilig, und so wird schnell die Fracht umgeladen. Kisten, Kartons, Fässer und ein Gewehr raus, ein Skidoo rein. Luken dicht, anschnallen und Start gegen den Berg.

Willy legt die Twinotter in eine scharfe Linkskurve und überfliegt zweimal ein Tal, wo eigentlich die Piste sein sollte

Die Zeit läuft uns davon, denn der Wind nimmt weiter zu. Unsere Groundspeed sinkt auf 110 Knoten. Doch die Sicht hat sich deutlich gebessert, und ich kann ein bisschen mitplotten. Es ist nicht alles unisono weiß von hier oben: Es gibt zugeschneite Meeresbuchten, die man deutlich erkennen und identifizieren kann – eine Art arktische Kleinorientierung. Das VOR von Cambridge Bay läuft ein, und in dem grauen Einerlei ist auch bald die Runway zu erkennen. Puh. Landung, Tanken, ein starker Kaffee. Um 16 Uhr sitze ich wieder auf der „Dagmar Aaen“. Der Schneesturm schüttelt mein Schiff, und ich finde, dass ich einen tollen Job habe. Ich glaub’, ich bleibe noch ein bisschen hier. der Luft. Das gibt’s in keinem Film! Flachster Steigflug über die Dächer. Über einen Motorausfall mag ich gar nicht nachdenken.

Als alter Helgolandflieger mit der Britten Norman Islander habe ich ja schon einiges mitgemacht, aber dass mit diesem Koffer ein solcher Steilstart machbar ist, habe ich nicht für möglich gehalten. Ich bin beeindruckt, Willy grinst. Dieses Verfahren steht garantiert in keinem Flughandbuch. Und wer bei dieser Art der Fliegerei seine Aerodynamik nicht im Kopf hat, wird schnell zum Kunden des örtlichen Beerdigungsunternehmers. Nach routiniertem Rückflug über die karge, kalte Schönheit der Arktis setzt mich Willy am Schiff ab und sagt trocken: „Also, bis Sonntag.“ – „Wieso?“ – „Da fliegen wir nach Bay Chimo und am Dienstag auch.“ Nach Bay Chimo also. Das Wetter ist am Donnerstag nicht so toll: Whiteout. Das heißt sehr geringe Sichten und das Gefühl, man bewege sich in einem weißen Ping-pong-Ball.

Arktischer Kurzstart: Nach 150 Meter in der Luft!

Dafür liegt die Temperatur bei nur minus 39 Grad. Take-off um 10.38 Uhr mit sieben Passagieren und reichlich Fracht an Bord. Bei 500 Fuß pro Minute Steigen geht’s auf einem Kurs von 210 Grad ab in die Suppe. Der Tower meldet sich, um uns mit den neuesten Wettermeldungen zu beglücken. Für den Nachmittag ist ein schwerer Schneesturm vorausgesagt, man möge sich etwas beeilen. Der Wind hat schon zugelegt, inzwischen donnern wir mit einer Groundspeed von 178 Knoten durch die Einsamkeit. Etwa zwölf Meilen vor dem Ziel beginnen wir den Sinkflug. Das GPS führt uns zielsicher auf einen Punkt in der weißen Wildnis. Hier ist Vorsicht geboten: Der Landestrip in Bay Chimo liegt zwischen den Bergen. Draußen wird es dunkler – ein Zeichen dafür, dass es unter uns Landmassen gibt. Wir versuchen durch die Cockpitscheiben so etwas wie Konturen zu entdecken – nichts. Dann plötzlich ist alles frei.

Willy legt die Twinotter in eine scharfe Linkskurve und überfliegt zweimal ein Tal, wo eigentlich die Piste sein sollte. Die ist natürlich eingeschneit und von hier oben nicht zu identifizieren. Also sinken wir zwischen die Berge. Willy nimmt Maß … mit 20 Grad Klappen und 80 Knoten Fahrt rauschen wir ins Nichts. Die Höhe ist kaum zu schätzen, doch mein Kapitän fängt plötzlich ab, und wir sitzen hangauf im Schnee! Wie macht der das bloß? Bewunderung bei mir, Gelassenheit bei den Inuit. Die kennen diese Anflüge schon und sind wenig beeindruckt. Wir haben es eilig, und so wird schnell die Fracht umgeladen. Kisten, Kartons, Fässer und ein Gewehr raus, ein Skidoo rein. Luken dicht, anschnallen und Start gegen den Berg. Die Zeit läuft uns davon, denn der Wind nimmt weiter zu.

Unsere Groundspeed sinkt auf 110 Knoten. Doch die Sicht hat sich deutlich gebessert, und ich kann ein bisschen mitplotten. Es ist nicht alles unisono weiß von hier oben: Es gibt zugeschneite Meeresbuchten, die man deutlich erkennen und identifizieren kann – eine Art arktische Kleinorientierung. Das VOR von Cambridge Bay läuft ein, und in dem grauen Einerlei ist auch bald die Runway zu erkennen. Puh. Landung, Tanken, ein starker Kaffee. Um 16 Uhr sitze ich wieder auf der „Dagmar Aaen“. Der Schneesturm schüttelt mein Schiff, und ich finde, dass ich einen tollen Job habe. Ich glaub’, ich bleibe noch ein bisschen hier.

Text und Fotos: Rainer Herzberg, fliegermagazin 2/2005

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