Motorsegler

Flugzeug-Reportage: Stemme S10 & S6

Die Stemme S10 mit ihrem einzigartigen Einzieh-Propeller gibt es schon seit 1990.Doch im vergangenen Jahr hat sich der deutsche Hersteller neu aufgestellt und tritt nun mit neuer Energie und neuen Produkten an. Grund für einen Werksbesuch

Von Thomas Borchert
Flugzeug-Reportage: Stemme S10 & S6

Etwas ratlos stehe ich vor dem geöffneten Cockpit der S10, die ich fliegen soll. Die Kante geht mir fast bis zur Brust, es gibt keine Trittstufe und keinen Handgriff. Wie kommt man da rein? Klaus „Theo“ Körner von Stemme, der bei dem Flug auf mich aufpassen wird, grinst und macht einen Witz, den er schon hundert Mal gemacht hat: „Steht doch hier am Rumpf drauf: Stemme!“ Na, dann: Rücken zum Cockpit, eine Hand auf die Fläche, die andere auf den Cockpitrand – und hochstemmen. Mit dem Hintern auf den Rand, dann die Beine schwenken und reinrutschen lassen. Beim zweiten Mal geht’s schon fast wie von selbst, beim dritten Mal sieht es beinahe elegant aus. Ja, das kann man lernen.

Wir sind zum Flugplatz Strausberg östlich von Berlin gekommen, um das Werk der Stemme AG zu besuchen. Die baut hier ihre Edel-Motorsegler – und zwar schon lange: 1990 kam die S10 auf den Markt, das zweite Modell, die S6, hat ihre Musterzulassung bereits seit 2008. Doch derzeit tut sich viel bei Stemme: Seit eineinhalb Jahren gibt es einen neuen Chef, 2013 wurde die Marke und ihre Positionierung gründlich überarbeitet, der Ausbau des Service-Netzwerks ist angelaufen, und zur AERO hat ein feines Produkt-Tuning begonnen. „Die S10 ist und bleibt unser Flaggschiff“, erklärt Stemme-Chef Paul Masschelein, der aus Belgien stammt.

„Die S10 ist und bleibt unser Flaggschiff“ – Stemme-Chef Paul Masschelein

Das Konzept des genialen Hochleistungs-Motorseglers mit 23 Metern Spannweite ist seit seiner Einführung einzigartig: Ein Rotax-Turbomotor sitzt hinter dem Side-by-side-Cockpit im Rumpf. Von dort führt eine Welle in der Mittelkonsole zum Propeller. Der wiederum ist im Segelflug zusammengefaltet und in der Flugzeugnase versteckt. Mit einem Hebel im Cockpit kann der „Dom“, also die Nase, um gut zehn Zentimeter nach vorn geschoben werden. Dadurch entsteht ein Spalt, aus dem die von Federn gehaltenen Propellerblätter nach außen geschleudert werden, wenn der Motor anläuft. Das Ergebnis dieses Mechanismus: ein Gleitverhältnis von 1:50 im Segelflug.

„Ich war anfangs überrascht, wie groß das Interesse an der S10 immer noch ist“, sagt Masschelein. Peak Performer nennt Stemme die S10 jetzt – Spitzenleistung in einem Motorsegler, der auch für lange Reisen taugt. Die S6 trägt im Gegensatz dazu den Zusatz Sky Sportster. Auch hier hat man einen Rotax 914 quasi als Mittelmotor verbaut, allerdings ist vorne ein konventioneller Drei-Blatt-Propeller angebracht, dessen elektrische Constant-Speed-Mechanik auch eine Segelflug-Stellung bietet. Die S6 hat, im Gegensatz zur S10, ein Bugfahrwerk, die früher angebotene Festfahrwerks-Variante gibt es nicht mehr. Mit Bugrad und „nur“ 18 Metern Spannweite ist die S6 etwas handlicher, was mit einem Gleitverhältnis von 1:36 erkauft wird.

Einziehbar: Das Fahrwerk verschwindet im Rumpf, die Kühlluftklappen schließen sich im Segelflug

Dafür sorgt der Propeller für fünf Knoten mehr Fahrt: 145 Knoten schafft die S6 im schnellen Motorflug. Die S6 profitiert als erste vom Tuning: Es gibt sie nun auch als S6EW – deren Extended Wings die Spannweite auf 20 Meter und die Gleitzahl auf 38 bringen. Auch die Effizienz im Motorflug verbessert sich. Im kommenden Jahr soll dann auch der Faltmechanismus für die Flügel der S6 analog zu dem der S10 optimiert werden: Noch braucht man bei der S6 mehr als eine Person oder Rüsthilfen – bei der S10 schafft einer allein die Faltung der Flügel. Etwa 250 Exemplare der S10 fliegen weltweit, bei der S6 ist Werksnummer 30 in Bau. Beide Maschinen sind nicht billig: Um 300 000 Euro liegt der Preis je nach Ausstattung.

Dafür erhält man ein Flugzeug mit einzigartigen Fähigkeiten: Paul Masschelein erzählt gerne von einem Landsmann, der mit seiner S10 regelmäßig morgens um 9 Uhr in Belgien startet, in zwei Stunden an die Alpen fliegt, dort die Berge im Segelfug durchstreift und abends ohne Zwischenstopp wieder nach Hause kommt. „Derzeit sind die USA unser Hauptmarkt“, erklärt Masschelein. Highend-Motorsegler, die unter Motorkraft auch zum Reisen taugen, sind in der Weite Amerikas eine Attraktion. Außerdem gilt für US-Piloten eine Besonderheit: Motorsegler werden dort als Segelflugzeuge zugelassen – und für die braucht der Pilot kein medizinisches Tauglichkeitszeugnis.

Herrliche Ruhe umfängt uns, endlich kann ich meine Kurven mit Hilfe des Wollfadens auf der Haube sauber fliegen

Fliegt Masschelein selbst? „Nein. Aber vielleicht ist das ganz gut, wenn der Chef eines Flugzeugherstellers kein Pilot ist“, sagt er schmunzelnd: „Dann verliere ich nicht jedes Mal sämtliche Rationalität, wenn ich ein Flugzeug sehe.“ Wie man in die S10 reinkommt, wissen wir – also gehen wir fliegen. Zentral in der Mitte des Panels ist ein großer Griff angebracht, mit dem der Dom geöffnet und geschlossen wird. Die Kühlluftklappen an den Rumpfseiten und unter dem Triebwerk sind daran gekoppelt, lassen sich aber auch separat verstellen, um die Motortemperatur zu optimieren. Unterbrecherschalter stellen sicher, dass der Motor nicht laufen kann, wenn der Dom nicht geöffnet ist.

Genial: Eine Person kann allein die Flächen auf den Rumpf zurückklappen – und dann bei 11,40 Metern Spannweite unter Motorkraft rollen

Der Übergang vom Segel- zum Motorflug ist auch in der Luft blitzschnell erledigt. „Beim Anlassen musst Du drei Sekunden warten, bis die Zündung aktiv wird – anfangs dreht der Anlasser nur, um die Propellerblätter zu entfalten“, warnt mich Theo. Tatsächlich lasse ich zu früh los, aber beim zweiten Versuch klappt’s. Wir rollen mit den langen Flügeln vorsichtig zur Bahn. Der Kippschalter für die Propellerverstellung steht auf „Take-off“; nachher wird „Cruise“ die bessere Option mit weniger flachem Blattwinkel. Wegen des Faltpropellers ist die Verstellung eine technische Herausforderung: An der Nabe sind Elemente verbaut, die elektrisch beheizt werden und sich dadurch ausdehnen.

Dabei drücken sie die Propellerblätter in einen andere Winkel – aber das dauert eine Weile. Los geht’s – und wir erheben uns mit gut 800 Fuß pro Minute in den Himmel. Die Sicht durch die große Haube ist fantastisch. Die liegende Position ist sehr bequem, natürlich lassen sich die Pedale verstellen. Wir steuern den traditionsreichen Flugplatz Neuhardenberg kurz vor der polnischen Grenze an und steigen dabei auf 3000 Fuß.Bei den ersten Kreisen wird gleich deutlich, dass meine Segelflugzeit schon länger zurückliegt: Bei 23 Metern Spannweite ist ordentlich Seitenruder erforderlich, um das negative Wendemoment zu kompensieren – das bin ich nicht mehr gewohnt. Und die Schräglage reicht Theo auch nicht fürs Kurbeln in einem Bart.

Aber Thermik haben wir jetzt am Abend ohnehin nicht mehr. Dennoch schalten wir den Motor ab. Zündung aus. Dann betätige ich erst mit einem Seilzug vorsichtig die Propellerbremse, bis der Prop steht und sich die Blätter einfalten. Anschließend muss ich mit einem weiteren Seilzug den gefalteten Prop so drehen, dass er unter den Dom passt – dafür ist eine bestimmte Stellung erforderlich. Jetzt noch den Dom heranziehen; die Kühlluftklappen schließen dabei mit, sodass der Rotax-Motor warm bleibt. Herrliche Ruhe umfängt uns, endlich kann ich meine Kurven mit Hilfe des Wollfadens auf der Haube sauber fliegen. Nach ein paar Steilkurven sind wir auf 2500 Fuß gesunken und machen uns auf den zwölf Nautische Meilen langen Weg nach Strausberg – im Segelflug.

1:50 bei 107 km/h passt recht gut: Wir kommen wie vorher geschätzt in 1000 Fuß am Platz an

Passgenau: Trotz des engen Einbaus ist Kühlung kein Problem. Die Antriebswelle führt in der Mittelkonsole nach vorne, erst am Propeller wird die hohe Drehzahl des Rotax 914 per Getriebe reduziert

1:50 bei 107 km/h passt recht gut: Wir kommen wie vorher geschätzt in 1000 Fuß am Platz an. Die aerodynamische Güte der S10 ist beeindruckend. Das Fahrwerk fährt elektrisch aus, Solarzellen auf dem Rumpfrücken halten die Batterien dafür auch bei ausgedehnten Segelflügen bei Laune. Mit den Störklappen lässt sich der Anflug präzise steuern, die Handbremse am Steuerknüppel verlangsamt uns so, dass wir gerade noch von der Bahn rollen – eine problemlose Segelfluglandung. Nach wie vor bieten die Motorsegler von Stemme eine einzigartige Mischung aus Reise- und Segelflug bei höchster Bequemlichkeit. Diese Botschaft will die Mannschaft bei Stemme nun wieder laut und deutlich an den Markt bringen.

Fotos: Christina Scheunemann, fliegermagazin 6/2014

Technische Daten
Stemme S6/S6EW (und S10)
  • 18 m/20 m (S10: 23 m / 11,40 m gefaltet)
  • 17,42 qm / 18,34 qm (S10: 18,70 qm)
  • 8,52 m (S10: 8,42 m )
  • 2,45 m (S10: 1,80 m)
  • 1,13 m (S10: 1,06 m)
  • 680 kg (S10: 645 kg)
  • 900 kg (S10: 850 kg)
  • 130 l (S10: 120 l)
  • Rotax 914 F Turbo / 115 PS (S10: Rotax 914 F2/s1 Turbo / 115 PS)
  • 3-Blatt, Constant Speed (S10: 2-Blatt, verstellbar)
  • 15l/h@55% (S10: 16l/h@55%)
  • 925 ft/min. (S10: 817 ft/min.)
  • 20 000 ft (S10: 30 000 ft)
  • 860 NM (S10: 929 NM)
  • Stemme AG Flugplatzstr. F2, Nr. 6-7, 15344 Strausberg, Telefon: 03341 / 36 12-0, www.stemme.de
Über den Autor
Thomas Borchert

Thomas Borchert begann 1983 in Uetersen mit dem Segelfliegen. Es folgte eine Motorsegler-Lizenz und schließlich die PPL in den USA, die dann in Deutschland umgeschrieben wurde. 2006 kam die Instrumentenflugberechtigung hinzu. Der 1962 geborene Diplom-Physiker kam Anfang 2009 vom stern zum fliegermagazin. Er fliegt derzeit vor allem Chartermaschinen vom Typ Cirrus SR22T, am liebsten auf längeren Reisen und gerne auch in den USA.

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